zum Hauptinhalt
Die Londoner Schriftstellerin Bernardine Evaristo.

© Imago

Biografie der britischen Schriftstellerin: Bernardine Evaristo erzählt aus ihrem bewegten Leben

Booker-Prize-Trägerin Bernardine Evaristo beschreibt in ihrer Autobiografie „Manifesto“, wie sie sich im britischen Kulturbetrieb durchgeboxt hat.

Die Juryentscheidung wirkte unentschlossen, als trauten die Juror*innen sich selbst nicht ganz über den Weg: Der Booker Prize ging 2019 an Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“, womit erstmals eine Schwarze Autorin den prestigeträchtigen Preis bekam. Allerdings wurde er in diesem Jahr auch erstmals geteilt und außerdem an Margaret Atwoods „Die Zeuginnen“ vergeben. Was bei der Preisverleihung irritierte, schmälerte nicht die Freude der damals 60-jährigen Evaristo, die die Aufmerksamkeit sehr gut gebrauchen konnte.

In ihrer Autobiografie „Manifesto“ räumt die Londoner Autorin der „lebensverändernden Erfahrung“ gleichwohl nur eine knappe Seite ein und erzählt lieber die Vorgeschichte ihres späten Erfolges – und die ist wahrlich mitreißend und wendungsreich.Evaristo berichtet teils chronologisch, teils nach Themen gebündelt aus ihrem Leben, was einen guten Rhythmus ergibt. Geboren 1959 als viertes von acht Kindern einer britischen Lehrerin und eines nigerianischen Fabrikarbeiters, ist ihr der Weg auf die literarische Weltbühne sicher nicht vorgezeichnet.

Eingeworfene Fensterscheiben gehörten zum Familienalltag

Die Familie bewohnt ein heruntergekommenes Haus in einer überwiegend weißen Gegend Londons, wo sie vielen Anfeindungen ausgesetzt ist. Abwertende Sprüche und eingeworfene Fensterscheiben gehören zu Evaristos Kindheitsalltag. Ihr Vater schläft bis zum Ende seines Lebens stets mit einem Hammer neben dem Bett. „Man spürt Hass, obwohl man nichts getan hat, womit man ihn sich eingehandelt hätte, und so sucht man den Fehler bei sich selbst, statt bei den anderen.“ Der Rassismus wird verinnerlicht – da hilft es wenig, dass er in England 1965 endlich zu einem Straftatbestand wird.

Ihre Eltern nennt Evaristo „das ultimative Ying-und-Yang-Paar“. Der Vater ist streng, hält seinen Kindern lange Vorträge und schlägt sie manchmal mit dem Gürtel oder Kochlöffel. Die Mutter charakterisiert sie dagegen als zugänglich, kommunikativ und warmherzig. Beiden Eltern gemeinsam ist das politische Engagement. Sie gehen auf Demos, engagieren sich gewerkschaftlich und lokalpolitisch.

Etwas von diesem Kampfgeist steckt auch in ihrer Tochter, deren Kreativität vom Beginn ihrer Karriere an eng mit ihrem Aktivismus verbunden ist – ihr Buch heißt nicht ohne Grund „Manifesto“. Denn Evaristo, die schon als Kind begeistert liest und Gedichte schreibt, hat nie die Wahl oder den Luxus, unpolitisch zu sein.

Um als junge Schwarze Frau in der elitären Kulturszene der Thatcher-Zeit einen Platz zu finden, muss sie ihn sich selbst schaffen. So gründet sie 1982 nach ihrer Schauspielausbildung mit zwei Freundinnen das Theatre of Black Women, die erste Einrichtung dieser Art in Großbritannien. Die Frauen schreiben und inszenieren ihre eigenen Stücke, in denen sie auch mitspielen. Nebenbei fuchsen sie sich in die geschäftliche Seite des Theaterbetriebs ein.

[Bernardine Evaristo. Manifesto. Warum ich niemals aufgebe. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Tropen Verlag, Stuttgart 2022. 250 Seiten, 22 €]

Von diesen Erfahrungen ist einiges in den wunderbaren Roman „Mädchen, Frau etc.“ eingeflossen. Denn die lockere Rahmenerzählung des in freier Versform verfassten Romans, der die Leben von zwölf Schwarzen Frauen in London verwebt, handelt von einem Premierentag der Dramatikerin Amma, die einst mit Freundinnen ihr eigenes Haus gegründet hatte und nun ein großer Name des feministischen Schwarzen Theaters ist.

Amma ist ein ähnlich freier Geist wie ihre Erfinderin, allerdings hat sie anders als diese eine Tochter – und lebt offen lesbisch, was bei Evaristo nur in ihren Zwanzigern der Fall war. Heute ist sie mit einem Mann verheiratet. Im Kapitel „Frauen und Männer, die kamen und gingen“ beleuchtet sie ihr Liebesleben, wobei zwei lesbische Beziehungen – eine erfüllte und eine toxische – eine zentrale Rolle einnehmen. Die Jahre mit der „Durchgeknallten Domina“ haben wiederum ein Kapitel von „Mädchen, Frau etc.“ inspiriert.

[Neuigkeiten aus der queeren Welt gibt es im Queerspiegel-Newsletter des Tagesspiegel, der zweimal im Monat erscheint - hier geht es zur Anmeldung.]

Die größte Liebe in Evaristos Leben ist eindeutig das Schreiben und „Manifesto“ das Dokument ihres langen entbehrungsreichen Weges zur anerkannten Autorin. Nach dem Theater widmet sie sich zunächst der Lyrik und schließlich der Prosa, wobei sie die Formen auch immer wieder mischt. So wirft Evaristo die erste Fassung ihres Debütromans „Lara“ nach drei Jahren Arbeit in den Mülleimer, um die Geschichte in Gedichtform noch einmal zu verfassen. Evaristo begreift, dass Schreiben vor allem Umschreiben bedeutet und gibt in ihrer Autobiografie einen lebendigen Eindruck von diesen Überarbeitungsprozessen. Dabei würdigt sie auch die Arbeit ihres Lektorats.

Dieser Blick in ihre Werkstatt ist das genaue Gegenteil von Selbstmystifizierung, vielmehr zeigt er, wie selbstkritisch und zäh eine Schriftstellerin sein muss. „Warum ich niemals aufgebe“ lautet der passende Untertitel des Buches, das häufig Rückschläge und Hindernisse thematisiert. „Wenn wir schreiben, müssen wir uns ein dickes Fell zulegen – Enttäuschungen aushalten und negatives Feedback stoisch ertragen“, heißt es einmal.

Eine Technik, die Evaristo dabei hilft, sind kurze, positive Affirmationen, die sie sich auf Karteikarten schreibt und mehrmals täglich laut vorliest. Das sind keine Wunschlisten, sondern Aussagesätze im Präsens, die so formuliert sind, als habe sie das Ziel bereits erreicht. Als 1997 „Lara“ erschien, schrieb Evaristo sich die Affirmation, dass sie den Booker Prize gewonnen habe. Magisches Denken, das 22 Jahre später zu einem realen magischen Moment wird – nur von Margaret Atwood stand nichts auf der Karte.

Zur Startseite