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Der Literaturkritiker Denis Scheck.

© picture alliance / Rolf Vennenbernd / dpa

Bill Gates, Kamala Harris, Mai Thi Nguyen-Kim: Denis Scheck kommentiert die Bestsellerliste

Einmal monatlich bespricht der Literaturkritiker die „Spiegel“-Bestsellerliste – parallel zu seiner ARD-Sendung „Druckfrisch“. Diesmal: die Rubrik Sachbuch.

10.) Julian Barnes: Der Mann im roten Rock (Deutsch von Gertraude Krüger, Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 24 €.)

In der geistigen Ödnis einer Bestsellerliste stößt man mitunter auf wundersame Oasen des Leseglücks: Dieser Zwitter zwischen Biografie und Roman ist so eine. Am Beispiel einer Stippvisite dreier Männer aus Paris im London des Jahres 1885 entwickelt Julian Barnes ein flammendes Plädoyer für Europa – und erzählt wie nebenbei vom Glanz und Glück der Belle Epoque, von Liebe, Tod und dem Sinn des Lebens. Ich verneige mich.

9.) Dan Morain: Kamala Harris (Deutsch von Sylvia Bieker, Christiane Bernhardt, Karsten Singelmann, Astrid Becker, Eva Schestag, Henriette Zeltner-Shane, Pieke Biermann, Hella Reese und Stephan Kleiner. Heyne Verlag, 384 Seiten, 22 €.)

Das Beispiel für die Tonlage, Tiefe und intellektuelle Penetranz dieses Buches findet sich bereits auf Seite eins: „Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich ihre Geburt nur zwei Wochen vor dem Wahltag ereignete und dass sie in Kalifornien stattfand.“ So ist es denn vielleicht auch kein Zufall, dass mein Verriss dieser verquatschten, unfokussierten Biografie am Vollmond vor Ostern stattfindet. Dieses Buch ist eine aus den schlimmsten Klischees intellektueller Trägheit zusammengerührte Heiligenlegende.

8.) Monika Gruber / Andreas Hock:

Und erlöse uns von den Blöden (Piper Verlag, 240 Seiten, 20 €.)

Bei der Übersetzung ihrer Bühnentexte in die Form eines Buchs unterlaufen den Kabarettisten sehr viele lahme anti-intellektuelle Witze und nicht zündende Pointen: ein unnötiges Buch.

7.) Gerald Hüther: Lieblosigkeit macht krank (Herder, 176 Seiten, 18 €.)

Ganz besonders krank macht lieblos heruntergerotzte Sachbuchprosa. „Lieblosigkeit“ als Ursache der Pest im Mittelalter zu diagnostizieren, ist schon ziemlich edgy. Doch Hüther geht noch einen Schritt weiter, indem er schreibt: „Erst jetzt, angesichts der wachsenden Probleme auf der Welt, wird offenbar, dass wir mithilfe unseres nackten Verstandes nicht nur viele Probleme lösen, sondern auch sehr viele, bisher nicht dagewesene Probleme erzeugen können.“ Gerald Hüther ist der Peter Hahne der Hirnforschung.

6.) Bill Gates: Wie wir die Klimakatastrophe verhindern (Deutsch von Karsten Petersen, Hans-Peter Remmler, Piper, 320 S., 22 €.)

Mit welch’ Jules-Verne-hafter Technikbegeisterung sich die beste Strategie gegen den Klimawandel auch diskutieren lässt, muss hierzulande verblüffen. Auch dass sich Bill Gates als Fan von David Foster Wallace und der Atomkraft outet. Immerhin besitzt Gates die Fähigkeit zur Selbstironie, wenn er schreibt: „Die Welt leidet nicht gerade unter einem Mangel an reichen Männern, die große Ideen haben für das, was andere Leute tun sollten, oder die glauben, dass jedes Problem durch Technologie gelöst werden könne.“ Tatsächlich aber hat sein ideenreiches Buch gerade durch seine Beschreibungen von Zukunftstechnologien, die den CO2-Ausstoß reduzieren helfen, einen lange vermissten „sense of wonder“ in mir ausgelöst. Gerade im oft so technikfeindlichen Deutschland eine notwendige Lektüre.

5.) Kamala Harris: Der Wahrheit verpflichtet (Deutsch von Jürgen Neubauer, Siedler, 336 Seiten, 22 €.)

Babyküssende Politiker im Wahlkampf sind ein Klischee. Wie dreist jedoch Kamela Harris Kinder in ihrer Autobiografie instrumentalisiert, schlägt dem Fass den Boden aus. „Irgendwann kam mein neunjähriges Patenkind Alexander mit dicken Tränen in den Augen zu mir“, schreibt Harris über den Abend der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten. „Komm her, kleiner Mann. Was ist denn los? Alexander blickte mich an. Seine Stimme zitterte. ,Tante Kamala, der Mann darf nicht gewinnen. Er gewinnt doch nicht, oder?’ Es brach mir fast das Herz.“ Mir bricht auch das Herz, dass eine kluge Frau wie Kamala Harris, ein Symbol meiner politischen Hoffnung, eine Autobiografie schreibt, die so populistisch und flach ist. Ein typisches Politikerbuch eben.

4.) Isabel Allende: Was wir Frauen wollen (Deutsch von Svenja Becker, Suhrkamp, 184 Seiten, 18 €.)

Hinter dem zu vollmundigen Titel verbirgt sich ein durchaus kurzweiliger autobiografischer Anekdotenreigen, zusammengehalten vom Feminismus der Autorin. „Und worin besteht nun mein Feminismus?“, fragt Isabell Allende. „Dass es nicht darauf ankommt, was wir zwischen den Beinen, sondern was wir zwischen den Ohren haben.“ Gut gesagt.

3.) Barack Obama: Ein verheißenes Land (Deutsch von Silvia Bieker, Harriet Fricke, Stephan Gebauer, Stephan Kleiner, Elke Link, Thorsten Schmidt und Henriette Zeltner-Shane, Penguin, 1024 Seiten, 42 €.)

Seit Winston Churchill hat kein Staatsmann reflektierter über Realpolitik geschrieben. Kein typisches Politikerbuch.

2.) Sophie Passmann: Komplett Gänsehaut (Kiepenheuer & Witsch, 192 S., 19 €.)

Man kann diesen Generationen-Befindlichkeits-Essay für larmoyant und befangen in schwer aushaltbarer adoleszenter Nabelkreiserei halten. Aber mitten in der Lektüre fällt einem ein: Doch, so war das – so von Unsicherheit befangen, so von Meinungsfuror getrieben und so von Peinlichkeitsangst gequält warst auch Du einmal. Ein abenteuerlicher Ausflug auf den Planeten Jugend.

1.) Mai Thi Nguyen-Kim: Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit (Droemer, 368 Seiten, 20 €.)

Sollen Drogen legalisiert werden? Führen Killerspiele zu mehr Gewalt? Sind Tierversuche ethisch legitim? Trotz einiger alberner Flapsigkeiten und unnötiger Anwanzereien an vermeintliche Jugendsprache im Stil habe ich diese Sichtung von acht Problemfeldern aus evidenzgestützter wissenschaftlicher Perspektive mit großem Gewinn gelesen.

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