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Gebete im Camp. Rohingya-Kinder in Kutupalong (August 2018).

© Dibyangshu Sarkar/AFP

Besuch im Rohingya-Flüchtlingslager: Das Volk im Nirgendwo

Von Myanmar nach Bangladesch: Die Schriftstellerin Sadaf Saaz hat die Rohingya im größten Flüchtlingslager der Welt besucht.

Seit Jahrhunderten leben muslimische Rohingya in der Provinz Rakhaing im Westen Myanmars. Aber wie das frühere Militärregime erkennt auch die derzeitige Regierung Myanmars die Rohingya nicht als eigenständige Volksgruppe an. Seit 1982 wird ihnen die Staatsangehörigkeit vorenthalten, obwohl sie in Myanmar geboren sind. Bürgerliche Grundrechte verweigert man ihnen ebenso wie den Zugang zu medizinischer Versorgung, zu Bildung und Arbeit. In der Vergangenheit sind hunderttausende Rohingya vor der Gewalt, der sie in ihrem Heimatland ausgesetzt waren, geflohen.

Viele flüchteten bereits in den achtziger und neunziger Jahren nach Bangladesch. Bis vor Kurzem belief sich ihre Zahl auf etwa 300 000. Seit August 2016 ist die Situation eskaliert. Vieles weist auf gezielte ethnische Säuberungen hin; ein Völkermord soll der Präsenz der Rohingya im Land ein Ende setzen. Die Regierung unter Aung San Suu Kyi gewehrt den Vereinten Nationen keinen Zugang nach Rakhaing. Im Oktober 2016 hat das burmesische Militär mithilfe sympathisierender Buddhisten zahlreiche Rohingya-Dörfer in Brand gesteckt, woraufhin eine Massenflucht nach Bangladesch einsetzte. Am 25. August 2017 ging das Militär brutal gegen jene Rohingya vor, die noch in ihren Dörfern und nicht in den von der Regierung ausgewiesenen Lagern lebten. Die Übergriffe wurden als Vergeltungsschläge gegen die Arakan Rohingya Salvation Army ausgegeben, die eine Reihe von Polizeistationen angegriffen und mehrere Polizisten getötet hatte.

Anfangs kamen jeden Tag über 30 000 Menschen ins Land

Nach den brutalen Übergriffen sahen sich etwa 700 000 Rohingya gezwungen, nach Bangladesch zu fliehen. Das Nachbarland öffnete seine Grenzen und stellte innerhalb weniger Wochen Hilfsgüter für weit über eine halbe Million Menschen bereit. Anfangs kamen jeden Tag über 30 000 Menschen ins Land. Zum Vergleich: Laut der Internationalen Organisation für Migration (IMO) erreichten 2015 an die 1 050 000 Flüchtlinge Europa; die Zahl der registrierten „vertriebenen Bürger Myanmars“, so die offizielle Sprachregelung der Behörden, beläuft sich auf mittlerweile 1 077 000.

Das Großcamp Kutupalong-Balukhali gilt inzwischen als das größte Flüchtlingslager der Welt. Es ähnelt einer Stadt. Zahlreiche Geschäfte, Friseursalons und Märkte haben sich an der Hauptstraße angesiedelt, überall sind Menschen unterwegs. Das Camp existiert seit den achtziger Jahren. Seit dem jüngsten Zustrom leben hier offiziellen Angaben zufolge 670 000 Menschen. In einem neueren Abschnitt von Kutupalong begegne ich einer Gruppe plaudernder Rohingya-Frauen, die traditionelle Gewänder tragen. Eine von ihnen lädt mich in ihr beengtes, aber sauberes Zuhause ein. Auf dem Boden liegt eine ansprechend gemusterte Strohmatte, in einer Ecke hängt Kleidung, in einer anderen stehen, ordentlich übereinandergestapelt, Töpfe und Pfannen. In zwei miteinander verbundenen Räumen leben jeweils bis zu sieben Kinder mit ihren Eltern und Tanten.

Wie eine Reise in die Vergangenheit Bangladeschs

In kurzer Zeit füllt sich das Zimmer mit Frauen, die bunte Tücher um den Kopf geschlungen oder als Turban tragen. Sie möchten sich mit mir und meiner Begleiterin unterhalten. Shahana Apa spricht fließend Chatgaya. Da ich ursprünglich aus Chittagong komme, verstehe ich Chatgaya so gut, dass ich der Unterhaltung größtenteils folgen kann. Schon nach wenigen Minuten ist alle Scheu verflogen und wir reden angeregt darüber, was unsere Familien und Kinder so treiben. Ich bin neugierig zu erfahren, warum die Rohingya-Frauen so viele Kinder haben. Die meisten jungen Frauen im Camp sind sieben- bis achtfache Mütter und müssen bei der ersten Geburt noch Teenager gewesen sein.

Mein Besuch kommt mir wie eine Reise in die Vergangenheit Bangladeschs vor, als Familienplanung noch ein Fremdwort war. Um mich haben sich Shabuha Bibi, Noor Koli, Noor Fatima, Amina Khatun und Nurjahan versammelt. Nurjahan hat vor kurzem ein Mädchen zur Welt gebracht. Sie möchte, dass ich ihm einen Namen gebe. Shabuha ist Anfang 30, eine bildschöne Frau mit indischen Gesichtszügen. Sie hat fünf Kinder. Sie und ihr Mann konnten noch vor den Angriffen des Militärs fliehen, aber ihr Bruder wurde erschossen. Sie berichtet: „Wenn man im Krankenhaus ein Kind zur Welt bringt, nehmen die Mog es einem weg und töten es. Dann bekommt man sein totes Kind zurück.“

„Das hier sind Gottes Kinder“

Die Furcht vor den Buddhisten – die Rohingya nennen sie „Mog“ – könnte nicht größer sein. „Wir haben nie Medizin genommen, um weniger Kinder zu bekommen. Das hier sind Gottes Kinder.“ Trotzdem sagen die Frauen, sie hätten gern die Möglichkeit, zu verhüten. Sie wollen ihre Kinder in die Schule schicken und anständig für sie sorgen können.

Kilometer um Kilometer führt die Sandpiste an Behelfsunterkünften entlang, die hügelige Landschaft war früher dicht bewaldet. Je nachdem, welche Organisation die Unterkünfte finanziert, sind die Bambusgerüste mit blauen, weißen oder orangefarbenen Planen bespannt. So weit das Auge reicht, breiten sie sich wie ein bunter Teppich über das wellige Land.

„Wir müssen akzeptieren, dass die Flüchtlinge hier sind“

Gebete im Camp. Rohingya-Kinder in Kutupalong (August 2018).
Gebete im Camp. Rohingya-Kinder in Kutupalong (August 2018).

© Dibyangshu Sarkar/AFP

Abdur Rahim kam vor dem islamischen Opferfest nach Balukhali, kurz nachdem Militäreinheiten die Rohingya-Dörfer angegriffen hatten. Er sagt, er wolle in seine Heimat zurück, aber erst, wenn die Regierung von Myanmar den Rohingya ihre Bürgerrechte zugestehe und die Vereinten Nationen sowie die Regierung von Bangladesch für die Sicherheit der Rückkehrer garantieren könne. Sein Dorf, Kuur Mill Monder, sei fünf Tagesreisen entfernt. Als die umliegenden Dörfer in Brand gesteckt wurden und das Militär von Dorf zu Dorf zog und reihenweise junge Männer erschoss, habe er rechtzeitig fliehen können.

Mit seiner Frau, seinen drei Söhnen und zwei Töchtern bewohnt er ein Zelt, das ihm von der Lagerleitung zugewiesen wurde. Weniger als zehn Quadratmeter stehen ihnen zum Schlafen, Wohnen und Kochen zur Verfügung. Ganz in der Nähe gibt es eine neugebaute Latrine. Eine kleine chinesische Solarlampe, die sie mitgebracht haben, spendet zusätzlich Licht. „Bangladesch gewährt uns Obdach und Schutz. Wir werden den Menschen die Zuwendung, die sie uns hier entgegenbringen, niemals vergessen“, versichert er. Alle zwei Wochen bekommen sie 25 Kilo Reis, sieben Kilo Linsen und zwei Liter Öl. Abdur Rahim zeigt mir seine vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen ausgestellte Lebensmittelkarte. Die Menschen im Camp erhalten grundsätzlich kein Bargeld. Wer Gemüse und Artikel des täglichen Bedarfs kaufen will, muss einen Teil seiner Rationen oder seinen Schmuck versetzen.

Etwa 48 000 Kinder kamen 2018 in den Camps zur Welt

Anwar Sadeq, gerade Anfang 20, ist erst kürzlich mit seinen acht Geschwistern, seinen Eltern und der Großmutter mütterlicherseits in Balukhali angekommen. Er hat zwei Paar Ohrringe seiner Mutter verkauft, um ein kleines Geschäft eröffnen zu können, das pro Tag um die 500 Taka abwirft, etwa sechs US-Dollar. Khadija, eine Frau aus der Gegend, kauft Betelblätter bei ihm, setzt sich auf eine der Bambusbänke und gönnt sich eine Rauchpause: „Seit die Flüchtlinge hier sind, ist es schwer für uns. Die Preise für Nahrungsmittel sind gestiegen. Aber wo sollen sie sonst hin? Wir müssen akzeptieren, dass sie hier sind. In ihrer Heimat werden sie umgebracht.“

Ich betrete ein großes Zelt mit dem UNHCR-Logo. „Behandlungsmaßnahmen nach einer Vergewaltigung“ steht in säuberlicher Handschrift auf einem großen Bogen blauen Papiers. Die Einrichtung der HOPE Foundation kümmert sich nicht nur um Opfer sexueller Gewalt, sondern auch um den Nachwuchs. Bereits 13 schwangere Frauen sind an diesem Morgen hier gewesen, alle haben bereits fünf oder sechs Kinder. Angebote zur Schwangerschaftsverhütung werden von den meisten Frauen nicht angenommen. Schätzungen gehen davon aus, dass im Jahr 2018 in den Camps etwa 48 000 Kinder zur Welt kommen werden.

Immer mehr Opfer trauen sich, zu sprechen

Sharifa arbeitet hier, sie ist 23 Jahre alt und macht eine Ausbildung zur Hebamme. Sie erzählt, man bemühe sich, konservativ gesinnte Männer davon zu überzeugen, ihre Frauen hierherzuschicken. Sie spricht mit sanfter Stimme, die Frauen vertrauen ihr. Sie behandelt auch Frauen, die vor ihrer Flucht vergewaltigt wurden. Zwar wird in vielen Familien nicht über die sexuellen Übergriffe geredet, und doch trauen sich immer mehr Opfer, offen darüber zu sprechen, was ihnen angetan wurde. Mich überrascht, wie viele von ihnen von „Vergewaltigung“ sprechen und nicht von „Ehrverlust“, wie nach den Vergewaltigungen bangalischer Frauen während des Bangladesch-Kriegs von 1971.

Nach Ende des Bangladesch-Kriegs entschieden sich viele Frauen, die von feindlichen Soldaten vergewaltigt worden waren, für eine Abtreibung. Die Regierung bestärkte die Frauen darin und organisierte zudem die Adoption und Verschickung von 25 000 Kindern ins Ausland. Rohingya-Frauen wollen weder abtreiben, noch werden sie dazu gedrängt, Kinder, die aus einer Vergewaltigung hervorgegangen sind, zur Adoption freizugeben. Offenbar werden sie akzeptiert wie andere Kinder auch und gehören zur Gemeinschaft der Rohingya.

Die Lyrikerin, Schriftstellerin und Menschenrechtlerin Sadaf Saaz wurde 1968 als Tochter von Bangladeschis in Princeton, New Jersey, geboren, wuchs in Großbritannien auf und kam als 16-Jährige mit ihren Eltern nach Bangladesch, ohne zunächst die Landessprache zu sprechen. 2011 gründete sie das Dhaka Lit Fest, dessen Direktorin sie heute ist. Ihr von Gregor Runge aus dem Englischen übersetzter und hier in Auszügen dokumentierte Text gehört zu dem Projekt „Refugees Worldwide II“, das Reportagen über Flüchtlinge in aller Welt sammelt. Am Sa, 8.9., 18 Uhr, wird es im Rahmen des Internationalen Literaturfestival Berlin auf der Mittelbühne im HdBF vorgestellt.

Sadaf Saaz

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