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Der Leuchtturm von Rumeli Feneri.

© mauritius images

Besuch an Europas Grenze: Unterwegs mit den Argonauten

Das türkische Dorf Rumeli Feneri ist ein Ort, von dem viele Mythen erzählen. Wo der Bosporus ins Schwarze Meer fließt, endet Europa. Eine Spurensuche.

Ein Leuchtturm, eine Moschee, eine Platane auf dem Dorfplatz: ein kleines Fischerdorf an der Mündung des Bosporus ins Schwarze Meer. Unter der Platane sitzen auf dem Dorfplatz von Rumeli Feneri alte Männer über ihren Teegläsern. „Wenn man vorbeigeht, folgen einem alle Blicke“, bemerkt Jens Mühling, der mit einem Rucksack durch das Dorf wandert. Der deutsche Schriftsteller ist einen weiten Weg gekommen. Einmal um das Schwarze Meer herum ist er gereist, um ein Buch darüber zu schreiben – es erschien im Frühjahr unter dem Titel „Schwere See“.

In Istanbul begegnete er bei seinen Recherchen einer türkischen Meeresbiologin; nun ist er mit ihr verheiratet und lebt selbst am Bosporus. Was ihn heute nach Rumeli Feneri führt, das ist die Suche nach zwei Felsen – und den Ursprüngen von Europa. Im Hafen von Rumeli Feneri tanzen Fischerboote an ihren Tauen. Männer in Gummistiefeln schleifen alte Farbe von den Booten ab oder flicken ihre Netze. Mühling läuft an ihnen vorbei auf eine Hafenmole, die in den Bosporus hinausragt und an zwei Felsen endet – sie sind in die Mole einbetoniert, wie aus der Nähe sichtbar wird. „In den Hafen eingebaut sozusagen“, stellt Mühling fest. „Das ist schade.“

Auf der Jagd nach dem Goldenen Vlies

Ein unrühmliches Schicksal für den Schauplatz einer der ältesten Abenteuergeschichten der Menschheitsgeschichte. Bei den Felsen soll es sich um die Symplegaden handeln, von denen in der Argonauten-Sage erzählt wird, jenem großen Mythos der griechischen Antike, in dem Iason mit seinen Gefährten, den Argonauten, auszieht, das Goldene Vlies zu suchen.

Die Sage war schon Homer bekannt, der sie in seiner „Odyssee“ erwähnte, erzählt Mühling und zieht ein Buch aus seinem Rucksack: „Die Argonauten“ in der Fassung von Apollonios von Rhodos, der die mündlich überlieferte Erzählung im dritten Jahrhundert vor Christus schriftlich fixierte. Die deutsche Ausgabe von Mühling ist 1947 erschienen und trägt den Vermerk, dass sie von der Militärregierung abgesegnet und in Leipzig gedruckt wurde. „Habe ich mal auf dem Flohmarkt gefunden“, sagt er, schlägt den Band auf und liest laut gegen das Kreischen von Möwen und Schleifmaschinen auf der Mole: „Schon traf unaufhörlich das Dröhnen der prallenden Felsen an ihr Ohr, es brüllten die vom Meer umpeitschten Gestade.“

Bemannte Raumfahrt in der Antike

Wilde Abenteuer erlebten die Argonauten auf ihrer Reise, die sie vor Jahrtausenden aus dem nordgriechischen Königreich Thessalien durch den Bosporus bis ans Ende der Welt führte. „Im Grunde erzählt dieser Mythos etwas, was wirklich passiert ist“, sagt Mühling. Die Sage berichte davon, wie Griechen gegen Ende des zweiten vorchristlichen Jahrtausends zum ersten Mal durch den Bosporus ins Schwarze Meer fuhren. „Das muss man sich im Grunde so vorstellen wie heute die bemannte Raumfahrt. Sie stießen damit in eine Region vor, wo vorher nie ein Mensch gewesen war – oder jedenfalls kein griechischsprachiger Mensch.“

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Als „Barbaren“ bezeichneten die Griechen die Menschen am Schwarzen Meer, weil sie deren Sprachen nicht verstehen konnten und sie in ihren Ohren klangen wie ein unverständliches Gebrabbel – lautmalerisch formuliert „barbabar“. „Das waren Völker, die den Griechen damals anfangs sehr suspekt waren, zumal sie ja auch noch nomadisch lebten, also keinen festen Wohnsitz hatten – für die Griechen eine kaum vorstellbare Lebensweise“, sagt Mühling. „Deswegen wurden die Barbaren in der griechischen Vorstellung zur Chiffre für alles, was den Griechen fremd war, was sie fürchteten, was vermeintlich ihre eigene Zivilisation bedrohte – und von dieser Begegnung erzählt die Argo-Sage.“

Eine Taube wies den Weg

Die beiden Felsen hier, die Symplegaden, bewachen in der Sage den Ausgang des Bosporus – sie rauschen aufeinander zu, krachen zusammen und zerquetschen jeden, der hinauswill auf das unbekannte neue Meer. Die Argonauten haben schon von dieser Gefahr gehört, bevor sie den Bosporus durchfahren, denn ein blinder Seher hat sie davor gewarnt. Der Blinde verrät den Abenteurern aber auch, wie sie durchkommen können: Eine Taube soll ihnen den Weg weisen.

„In der Sage ist es dann so, dass die Argonauten eine Taube fliegen lassen“, berichtet Mühling. „Die Taube kommt so gerade zwischen den zusammenrauschenden Felsen durch. Im letzten Moment knallen die Felsen zusammen. Die Taube lässt dabei ein paar Federn. Und genauso ist es dann später auch mit dem Schiff der Argonauten. Sie kommen so gerade durch, und im letzten Moment schlagen ihnen diese zusammenrauschenden Felsen noch einen Teil vom Schiffsrumpf ab, aber nur ein kleines Stück. Sie kommen also mehr oder weniger unbeschadet aus dem Bosporus ins Schwarze Meer.“

Die Felsen sind ramponiert

Damit waren die Symplegaden bezwungen, denn einer alten Prophezeiung zufolge sollten sie ihr Zerstörungswerk einstellen, sobald einmal ein Schiff durchgefahren war, und zu zwei Felseninseln im Bosporus erstarren. Und so stehen sie noch heute hier – wenn auch etwas ramponiert, wie Mühling bei näherer Betrachtung feststellen muss. Die Felsen sind verschandelt mit Teilen von Hafenmauern und allerlei betonierten Anbauten; auch ein Container zählt dazu, bei dem es sich um eine Toilette handeln dürfte. „Sieht alles nicht so ganz nach Antike aus hier“, bedauert Mühling.

Vergessen und vernachlässigt stehen die Symplegaden heute am Rande des türkischen Fischerhafens. „Keine Ahnung“, was es mit den Felsen auf sich habe, sagen die Fischer, die in ihrem Schatten arbeiten. Ziemlich alt seien sie wohl, meint einer, im Ersten Weltkrieg hätten Leuchtfeuer darauf gebrannt.

Legende von der großen Flut

In Wirklichkeit dürfte die Geschichte dieser Felsen viel weiter zurückgehen, möglicherweise bis zur Entstehung des Bosporus selbst. Zum Ende der Eiszeit könnte das gewesen sein, als sich das Mittelmeer mit Schmelzwasser füllte, bis es seine Grenzen sprengte und den Spalt zwischen Europa und Kleinasien riss. Manche Wissenschaftler vertreten diese These. Andere glauben an eine Flut aus dem Schwarzen Meer und wieder andere, dass tektonische Verschiebungen die Kontinente auseinanderrissen.

„Die reizvollste Theorie ist natürlich die These von einer großen Flut, die vor etwa siebeneinhalbtausend Jahren eine Lücke in diese Landzunge gerissen hat und dadurch den Bosporus gebildet hat“, sagt Mühling. Möglicherweise sei dies auch der Ursprung der Sintflut-Geschichte – der Legende von einer großen Flut, von der Menschen rund um das Schwarze Meer und den Bosporus ihren Nachfahren erzählten. Über die Jahrhunderte ging die Legende in andere Erzählungen ein: das Alte Testament, das Gilgamesch-Epos und den Koran.

Ein Riss zwischen Europa und Asien

Jedenfalls klafft seither ein Riss zwischen Europa und Asien. Wenn man so wolle, sei Europa damals entstanden, meint Mühling. „Dadurch hatte Europa plötzlich eine Außengrenze, die es vorher nicht gab.“ Diese These funktioniert aber nur, wenn man Europa durch seine Grenzen definiert. „Wenn das das Bild ist, das man von Europa hat, dann hat natürlich diese Entstehungsgeschichte des Bosporus ihren Reiz, weil man dann sagen kann: Europa hat damals seine Grenzen gefunden – und alles, was dahinter ist, ist nicht mehr Europa.“

Mühling selbst teilt diese Auffassung von Europa nicht. Er klettert auf die Hafenmauer und blickt hinaus auf den Bosporus, von dem sein nächstes Buch handeln soll. „Ich bin spätestens seit meiner Umrundung des Schwarzen Meeres der Überzeugung, dass nationale Grenzen letztlich sehr wenig über Menschen aussagen“, sagt er. Wo die Grenzen Europas verlaufen, sei schon geografisch schwer zu entscheiden. Was die Menschen angehe, gebe es nur ein mögliches Maß, findet er: „Europa beginnt und endet in den Herzen der Europäer.“

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