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Der Berliner Schriftsteller Bernd Cailloux.

© imago images/STAR-MEDIA

Bernd Cailloux' neuer Roman: Arbeits-, sex- und haarlos

Bernd Cailloux erzählt in „Der amerikanische Sohn“ von einem einsamen Vater, von verlorenen Idealen und Kindern. 

Das entscheidende Mal nicht richtig zugehört. Nicht richtig aufgepasst. Damals mit Nina, als sie über ihre Geschäftsidee erzählt hatte. Das Café in Negril auf Jamaika, der Aussteigerinsel der sechziger Jahre. „Das ist meine letzte Gelegenheit“, hatte sie in einer ihrer Liebesnächte so nebenbei gesagt. 

Die letzte Gelegenheit, „ein intelligentes weißes Kind zu kriegen ...“ Damals hatte er das grotesk gefunden und nicht ernst genommen, bis Nina kurz darauf schwanger war. Und die dann wieder alles „mit dem Kopf“ machte, ohne Rücksicht auf ihren entscheidungsschwachen Liebhaber.

Dem ist Jahrzehnte später die „erreichte Altersklasse“ anzusehen. Zu vorgerückter Stunde erzählen sich die „restvirilen Männer“ von den Zufälligkeiten eines Männerlebens, von den „beschwiegenen Kindern“, diverse Mütter eingeschlossen. 

Mit Aussicht auf die aufscheinende Todeszone, wenn einem die Karten - meine Frau, mein Haus, mein Boot - längst aus der Hand gefallen sind, gewinnt der verdrängte Nachwuchs plötzlich an Bedeutung.

„So wie andere aus Wasser, bestehe ich zu achtzig Prozent aus Erinnerung“

Im Falle des Ich-Erzählers von Bernd Cailloux' neuem Roman „Der amerikanische Sohn“ ist es dieses „Nina-Kind“, das er nur einmal kurz gesehen hat und dann von seinem Radar verschwunden ist. 

Ein „popkulturell bemühtes, ansonsten strunzbürgerliches Blatt“ hat ihn wieder zusammengeführt mit seinem alten Kumpel Andreas Büdinger, mit dem er 1967 die toughe Idee hatte, Diskotheken mit Lichtblitzkugeln zu illuminieren. Getreu dem Motto: Wer anders tanzt, sieht auch die Welt anders.

Man kennt Büdinger und den durchgeknallten Anhang bereits aus dem 2005 erschienenen Roman „Das Geschäftsjahr 1968/69“. Darin hatte Cailloux die Geschichte dieses revolutionären Unternehmens, das so jämmerlich bürgerlich vor Gericht unterging, farbig ausgebreitet. 

All das bildet nun wieder das subkulturelle Hintergrundrauschen dieser nun einsetzenden Sohnessuche. „So wie andere aus Wasser, bestehe ich zu achtzig Prozent aus Erinnerung“, offenbart der Erzähler einem Mitreisenden nach New York City.

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Das Einzige nämlich, was der Bewohner aus der einstigen „Capitale der Subkultur“, Berlin, von seinem mittlerweile erwachsenen Sohn weiß, ist, dass er Eno heißt und sich irgendwo in den USA, möglicherweise in New York, aufhält. 

So nimmt er den von einer mediokren Kulturstiftung ausgerichteten Aufenthalt 2014 zum Anlass, die Spur aufzunehmen. Ist Eno tatsächlich Sportreporter geworden, der der Vater einmal gerne hätte werden wollen? Welche Ersatzväter hat ihm Nina in der Zwischenzeit zugemutet? Wie würde er auf ein Treffen reagieren? Wie ihm selbst standhalten?

In der Einsamkeit seines New Yorker Apartments, „arbeits-, sex- und haarlos“, folgt der Protagonist aber zunächst den Asphalttrassen früherer Besuche in den siebziger Jahren und setzt sich dem Härtetest zwischen Regen, Dreck und Anonymität aus. Er belagert raucherfreie Cafés, bewundert die chaotische bauliche Vielfalt und unternimmt „Andachtsprozessionen“ zum St. Mark's Place. 

Als leicht inkontinenter „Flaneur aus der Vorzeit“ denkt er über einen gerontophilen Stadtplan für dringende Bedürfnisse nach und nimmt die berechnende Kommunikation der Hipster zur Kenntnis: „Ruhm muss man hier schon von zuhause mitbringen“. 

Aus der Kontingenz der Geschichte möglichst viel Selbstverwirklichung pressen

Im melancholischen Nachklang verlorener Lieben, nicht mehr aufholbarer Versäumnisse und gegen alle Generalkritik der New-York-Müden erobert sich der Erzähler die Stadt zurück, die ihn wider Willen immer noch fasziniert. Leichtfüßig nicht nur durchquert, sondern auch leicht dahinerzählt, auf seiner Route ironische Wegmarken und Duftnoten der Erinnerung setzend.

Am Ende sitzt der Erschöpfte schließlich im Flugzeug nach Menlo Park, der Schlafstadt der Emsigen von Facebook, mit der berechtigten Hoffnung, Eno doch noch zu finden. 

Doch letztlich ist dieses in Aussicht genommene „Familienmärchen“ nur Aufhänger für die mild-selbstironische Bilanzierung eines Lebens, das einmal damit begann, bürgerliche Fesseln zu sprengen und aus der Kontingenz der Geschichte möglichst viel Selbstverwirklichung zu pressen.

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Bernd Cailloux' Protagonist verkörpert jenen Typus des Alt-68ers, der im Sinne des Kultursoziologen Andreas Reckwitz die Marschroute vorbereitet hat in die „Gesellschaft der Singularitäten“. 

Hatte der Erzähler als junger Mann die Bilderbuch-Motive auf seiner Reise in den Westen noch vom Greyhound-Bus aus wahrgenommen, blickt er nun atomisiert und aus der Vogelperspektive des Flugzeugs auf die Route, entgegen aller Absicht „ein Trauertourist“, der „von Enttäuschung zu Enttäuschung“ flaniert und „abgestraft wird für den Mangel an Ernst, das Versagen, für den als Individualismus getarnten, permanenten Selbstgenuss“.

Doch Bernd Cailloux blickt seinem Alter Ego nicht selbstzerfleischend ins Gesicht, sondern mit einer liebevollen Nachsicht im Wissen, dass „so ein Mann keinen Preis mehr bezahlen muss, er selbst ist der Preis.“ 
[Bernd Cailloux: Der amerikanische Sohn. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 223 Seiten, 22 €.]

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