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Figurative Filzstiftzeichnung von Ursula Sax aus dem Jahr 1957.

© Galerie Semjon Contemporary/VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Berlins große Bildhauerin Ursula Sax: Zartes für Hartes

Die Galerie Semjon Contemporary würdigt das zeichnerische Werk der 85-jährigen Berliner Künstlerin Ursula Sax.

Ein Männerkopf im Halbprofil, subtil durchkomponiert im Realismus der Moderne. Die Farbakzente bis hin zur rot geäderten Ohrmuschel pointiert aufs Pergamin gesetzt, Hinterkopf und Kinn auf dem puren Blattgrund im Anschnitt angedeutet. Ursula Sax ist 13 Jahre alt, als sie das eindrückliche Bildnis ihres Vaters zeichnet. Zwei Jahre danach wird sie an der Kunstakademie Stuttgart aufgenommen, in die Bildhauerklasse. Künstlerisch prägend war indes der Maler Willi Baumeister, der einmal wöchentlich Korrekturgespräche anbot und dem Sax später assistierte.

Das Porträt von 1948 bildet den Auftakt der retrospektiv angelegten Ausstellung „aus und auf Papier“ in der Berliner Galerie Semjon Contemporary. Die Blätter aus den 1950er-Jahren zeugen von den Wurzeln in der Stuttgarter Moderne und Nachkriegsmoderne, doch zugleich entwickelt Sax die abstrahierende Formensprache weiter. Mit Gittern und Rastern, die die Formationen der Filzstiftstudien zwischen technoid und wesenhaft schillern lassen. Vor allem aber zeigen sie das genuin bildhauerische Denken der 1935 im schwäbischen Backnang geborenen Künstlerin.

So die Graphitzeichnung „Akte“, entstanden 1956 während ihrer Aufnahmeprüfung an der Hochschule für Bildende Künste Berlin. Fünf Akte, mehr noch ein Akt verfünffacht: weiblich, üppig, schroff und kantig. Mit reduzierten Konturen und raschen Schraffuren, die einzelne Körperpartien hervorheben und den Um-Raum betonen. Eine Bildhauerzeichnung par excellence, die die Figuren ebenso in den Raum, in Bewegung versetzt wie unser betrachtendes Auge.

Hier geht es nicht um die naturalistische oder erotische Darstellung des weiblichen Körpers, sondern um Volumen, Gewicht und Masse, Schwere und Leichtigkeit. Und im Kontrapost, in der Betonung des Spielbeins der zweiten Figur, kommt auch augenzwinkernde Erotik ins Spiel.

Die skulpturalen Möglichkeiten an der Stuttgarter Akademie waren Sax bald zu eng. Auf Anregung Baumeisters zieht sie nach Paris und geht 1956 nach Berlin. Wird Meisterschülerin bei Hans Uhlmann, lernt das Schweißen und realisiert noch als Studentin ihren ersten Auftrag. Ein Eisenrelief für das Wohnheim des Studentenwerks in der Hardenbergstraße. Klingt wie der Beginn einer steilen Karriere. Doch gerade das Schicksal der ersten Auftragsarbeit zeigt ein generelles Dilemma von Bildhauer:innen. Irgendwann war das Relief entfernt. 2015 kam es, zerlegt und ramponiert, auf dem Dachboden des Wohnheims wieder zum Vorschein und wurde restauriert. Andere Plastiken wie Sax’ Betonfries in einem Charlottenburger Düttmann-Bau fielen mit dem Haus der Abrissbirne zum Opfer, eine raumgreifende Papierarbeit im Albertinum wurde zerstört. „Einem Mann wäre das nicht passiert“, sagt Galerist Semjon, der die Künstlerin 2015 wiederentdeckte und sich seither unermüdlich für ihr Werk einsetzt.

[Semjon Contemporary, Schröderstr. 1; bis 14. August. Di–Sa 13–19 Uhr. www.semjoncontemporary.com]

Denn wer kennt sie nicht, die gelb leuchtende, 50 Meter lange Stahlskulptur „Looping“, die sich am Messegelände neben der Autobahn entlangschwingt. Doch der Name der Künstlerin ist nur Fachleuten bekannt. Obwohl Ursula Sax republikweit zahlreiche Projekte im öffentlichen Raum und Kunst am Bau-Aufträge nicht zuletzt für den Bund realisiert hat, als Professorin in Braunschweig und Dresden lehrte, blieb die öffentliche Wahrnehmung lange Zeit marginal. Ein Aspekt dafür mögen ihre ebenso abrupten wie konsequenten Material- und Themenwechsel sein: von Holz zu Stein, von Eisen zu Beton, von Stahl zu Papier und textilen Stoffen, über die sie Wind und Luft als bildhauerisches Material entdeckt. In einer Zeit, in der die Wiedererkennbarkeit der künstlerischen Handschrift für den Erfolg zentral war, widersetzt Sax sich jedem Markenzeichen und ist dabei ihrer Zeit mit manchen Werken voraus.

Zu kühn für Bonn - die Plastik wurde abgelehnt

1974 entsteht das „Modell für eine begehbare Großplastik“ in den Bonner Ministerien. Zu kühn, zu unorthodox, abgelehnt. Heute denkt man ob der monumentalen Schwünge gleich an Richard Serra. „Dabei hat Ursula Sax das fünf Jahre vor Serra entwickelt“, so Semjon. Er hat es sich zur Herzensangelegenheit gemacht, ihre Kunst in ein wohlverdientes Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Auch die begehbare Großplastik will er realisieren. So, wie er erfolgreich für die zwischen 1985 und 1990 entstandenen Luftskulpturen und das Tanzstück „Geometrisches Ballett (Hommage an Oskar Schlemmer)“ gekämpft hat oder derzeit zu verhindern sucht, dass ein Sax-Brunnen in Spandau zerstört wird.

Der Rundgang durch die Galerie versammelt Arbeiten aus allen Zeiten. Von zeichnerisch dichten, amorphen Formen bis zum reduzierten lockeren Strich, mit dem „Europa“ als punktgenaue Linie aus Tusche ersteht. Dazwischen reihen sich Aquarelle, seltene Druckgrafiken und Blätter, die nachvollziehbar machen, wie Sax die Grenzen des zweidimensionalen Trägermediums sprengt, Papier durchbohrt und zersägt, spannungsreiche Faltungen kreiert, mit Nähgarn oder feinen Drahtgespinsten nervöse Lineaturen vollzieht. Die Preise variieren von 450 Euro für Auflagenobjekte bis 18.000 Euro für eine Säule aus Papier und Eisen.

Die Vielfalt dieses über sieben Jahrzehnte entstandenen Werks präsentiert nicht zuletzt die umfangreiche Katalogpublikation. Auf über 500 Seiten erforscht und bebildert sie die Stellung des Materials Papier bei Ursula Sax, mit aufschlussreichen Essays und Querverweisen zum bildhauerischen Werk. „Der rote Faden bin ich“, so das Credo der Künstlerin, die am 27. Juli ihren 86. Geburtstag feiert. Bleibt zu wünschen, dass sie ihren Faden weiterspinnen kann.

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