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Bondage Duell. Ballerina Dasniya Sommer (l.) und Juristin Silke Schönfleisch bei ihrer Performance.

© Brian Morrow

Berliner Theaterfestival No Limits: Tanz ist rebellischer als Sprechtheater

Unter dem Banner „Disability & Performing Arts“ startet das inklusive Theaterfestival in Berlin. No Limits bedeutet Genre, Gender und Grenzen überwinden.

Warum nicht mal zum Einhorn werden? Die Performerin Chiara Bersani hat sich vorgenommen, ein Fabelwesen zu sein. „Da ich sein Herz nicht kenne, werde ich versuchen, ihm meinen Atem und meine Augen zu geben.“ Unter Aufbietung aller Kräfte geht das vonstatten.

Die Künstlerin erwacht in diesem Solo langsam im Lichtkegel und beginnt dann, sich am Bühnenrand entlang zu robben. Alle Augen auf sie gerichtet. Schließlich, am Ende eines kräftezehrenden Weges, greift sie sich eine Trompete, der sie erst nur kläglich-luftige, dann immer lautere, klangvollere Töne abtrotzt. Der Triumph des Einhorns.

Mehr passiert nicht in der Performance „Gentle Unicorn“. Tatsächlich aber spielen sich im Gesicht von Chiara Bersani, die 98 Zentimeter groß ist und sich außerhalb der Bühne in einem Rollstuhl fortbewegt, fortwährend die wildesten Geschichten ab. Sie erzählen vom Auflehnen gegen Geringschätzung, vom über sich selbst hinauswachsen, von vorurteilsbefangenen Blicken, die auf den Betrachter zurückgeworfen werden. Sehr stark.

Mit der minutiös gearbeiteten Choreografie ist im HAU das diesjährige No Limits-Festival (bis 16.11., Infos: no-limits-festival.de) eröffnet worden. Es führt als Untertitel jetzt „Disability & Performing Arts“, am Konzept des Leiters Andreas Meder hat sich aber wenig geändert. Zu sehen sind zehn Tage lang internationale Inszenierungen von Künstlerinnen und Künstlern mit und ohne Behinderung. Und zwar verlässlich hochklassige, die eine Spanne an Themen und Formen vorführen, die sich definitiv nicht unter ein Genre pferchen lässt.

Im Keller des HAU lädt beispielsweise die britische Künstlerin Jo Bannon in die völlige Dunkelheit ein. Man sitzt ihr am Tisch gegenüber, bekommt Kopfhörer ausgehändigt und hört ihre sonore Stimme über das Sehen sinnieren.

Bannon (beim Festival auch mit der Choreografie „We are fucked“ vertreten) hat eine selten durchlässige Netzhaut, man kann direkt ins Augeninnere, oder, wie sie sagt, „durch sie hindurch“ schauen. „Exposure“ heißt diese feinnervige Live-Installation, die maximale Konzentration auf eine unsichtbare Begegnung schafft. „Sehen heißt auswählen“, sagt die Künstlerin. „Wir nehmen nur wahr, was wir betrachten".

Die wilde Gender-Sause verwitzelt männliche Stereotypen

In denkbar großem Kontrast zu Bannons minimalistischem Ansatz steht die wilde Gender-Sause „Diane for a Day“, die vom Berliner Theater Thikwa kommt (ebenso wie deren überschießende Séance „Die Butterblumen des Guten“). Der Titel ist eine Verbeugung vor der Künstlerin und Aktivistin Diane Torr, die in ihrer berühmten Anleitung „Man for a Day“ Verhaltenstipps für die formvollendete Alpha-Mann-Wirkung gegeben hat („Täuschen Sie vor, jemandem zuzuhören und zucken Sie dann desinteressiert mit den Schultern“).

Das Kollektiv hannsjana nimmt sie beim Wort und verwitzelt mit einem rein weiblichen Dragking-Ensemble von Klebebart-Trägerinnen gnadenlos männliche Stereotypen. Vom egomanen Mansplaining-Professor bis zum selbstmitleidigen Schnulzen-Sänger, alles paradierende Platzhirsche.

„In jeder verdammten Sonderschule wird Theater gespielt!“ Der Satz stammt nicht aus einem Stück, sondern vom Wiener Choreografen Michael Turinsky, der das Festival als erster Künstler mit Behinderung mitkuratiert. Und der damit zum Ausdruck bringen möchte, weshalb er seinen Fokus nicht auf klassische Sprechstücke legt. „Tanz erschien mir schon immer rebellischer, aufmüpfiger, radikaler.“

Eine Ballerina trifft auf eine Top-Juristin

Was sicher zutrifft, wenn dieser Tanz beispielsweise so aussieht wie in der Inszenierung „Bondage Duell“. In der Koproduktion mit den Sophiensälen (während des Festivals allerdings im Ballhaus Ost zu sehen) treffen mit Dasniya Sommer und Silke Schönfleisch eine Ballerina und eine körperbehinderte Top-Juristin aufeinander, um sich mit Fesseln und Fallstricken aller Art zu beschäftigen.

Als Kind, erzählt die Juristin einmal, während sie gerade an eine Bambusstange gebunden wird, habe sie mit Wasser, Mehl und Mullbinden ihre Puppen eingegipst. Was so bombenfest wurde, dass nur ein Arzt sie wieder aufschneiden konnte.

Es gibt wirklich herrlich grenzbefreite Arbeiten zu sehen. Noëmi Lackmeier lässt sich in der zehnstündigen Performance „Cherophobia“ an 20 000 mit Helium gefüllten Party-Ballons durch die Luft tragen. Die Schwedin Anna Berndtson bahnt sich in „BORG – again“ mit ihrem Taststock den Weg durch eine Landschaft aus verschossenen Tennisbällen.

Die Performer des berühmten Zürcher Theaters Hora und die italienische Choreografin Tiziana Pagliaro schütten sich in „Randon Saft Horror“ literweise Traubensaftblut über die weißen Hemden und zelebrieren zu Horrorfilmmusik ihre ganz eigene Aktionskunst.

Ein Highlight ist auch die Arbeit „Marat/Sade“ der verlässlich großartigen Gruppe Monster Truck. Mit Psychiatrie-erprobten Performern verdichten sie das berühmte Peter-Weiss-Stück auf die die Frage, wieviel Autonomie Spielerinnen und Spielern mit Behinderung zugebilligt wird. Die Antwort lautet hier: maximale. Zum Glück.

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