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Die Singakademie bei der Probe.

© Singakademie

Berliner Singakademie wird 50: Musik jenseits der Mauer

1961 verlor die historische Sing-Academie zu Berlin die Hälfte ihrer Mitglieder. 1963 gelang es dem Staatsopern-Intendanten Hans Pischner, die Neugründung des ambitionierten Laienchors durchzusetzen. Jetzt feiert er Jubiläum.

„Mmmmmmmmh!“, „Aaaaaaaah!“, „Sss, schschschsch, fff, ssss, schschschsch, ffff“. Während einige Nachzügler versuchen, möglichst leise in die Mensa der Carl-von-Ossietzky-Schule zu schlüpfen, machen sich die Mitglieder der Berliner Singakademie locker für die abendliche Probe. Schütteln gemeinschaftlich die Schultern aus, strecken sich, lassen aus ihren Mündern kieferschlackernd Luft entweichen wie Pferde. „Und jetzt eine wichtige Rede im Bundesrat!“, ruft Stimmbildnerin Sabine Fenske. „Blablablabla“, antworten die achtzig Männer und Frauen, die im Halbkreis um den Flügel stehen.

Immer dienstags und donnerstags um 18.45 Uhr probt die Berliner Singakademie auf dem Schulgelände am Südstern. Heute geht es um Felix Mendelssohn-Bartholdys „Elias“. Am morgigen Donnerstag wird der Chor das Oratorium im Konzerthaus am Gendarmenmarkt aufführen, zur Feier seines 50. Gründungsjubiläums. Achim Zimmermann, seit 1989 künstlerischer Leiter der Laienvereinigung, singt zur Klavierbegleitung die letzten Töne einer Arie, dann setzen die Sängerinnen und Sänger mit Verve ein: „Aber der Herr sieht es nicht, er spottet unser!“ Die melodischen Linien spalten sich auf für eine fugierte Passage, die Soprane gehen voran, es folgen Bässe, Altistinnen, Tenöre. „Beim Wort ,Fluch’ müsst ihr noch präziser sein“, bricht Zimmermann mitten im Takt ab. „Das ,ch’ muss man deutlich hören. Aber nicht zu früh!“

Präzise arbeitet der Chordirigent an der Artikulation, moniert jedes genuschelte „s“, jedes zu weiche „k“. „Die Konsonanten müsst ihr richtig gnätzschen!“ Zimmermann ist Sachse, geboren 1958 in Dippoldiswalde, musikalisch aufgewachsen als Knabensopran im Dresdner Kreuzchor, geprägt von der großen mitteldeutschen Kirchenmusiktradition. Er verlangt seinen Laiensängern viel ab, kehrt bei den Proben allerdings nicht den Pultdiktator heraus, sondern versucht die Truppe durch seine eigene Begeisterung für die Sache zu motivieren.

„Zweimal die Woche direkt von der Arbeit zur Probe, manchmal ist das ’ne ganz schöne Hetzerei“, sagt Liane Kaven vom Chorvorstand. „Aber wenn es dann losgeht, fällt der ganze Stress von mir ab. Dann gibt es nur noch das Singen.“

Rund ein Dutzend Konzerte veranstaltet die Berliner Singakademie pro Saison. Nimmt man noch die A-cappella-Projekte hinzu, die Probenwochenenden und Tourneen, dann sind jährlich rund ein Drittel aller Tage für den Chor reserviert. „Wer so intensiv zusammenarbeitet, muss sich mögen“, findet Achim Zimmermann. „Wir sind wie eine Großfamilie, vom Studenten bis zur Rentnerin sind alle Generationen vertreten. Da gibt’s auch mal Streit, da nervt auch mal jemand – aber letztlich profitieren die Neuen von den Langzeitmitgliedern und umgekehrt.“ Alle Auftritte werden ausschließlich mit eigenen Kräften bestritten, bezahlte Aushilfen, wie sonst in der Szene üblich, gibt es nicht. Besonders stolz ist Achim Zimmermann auf seine Herren. Denn Männer sind in gemischten Chören meistens Mangelware. Er hat drei Dutzend, die ihm treu sind.

Was für eine bewegte Historie das Ensemble hinter sich hat, ist vielen erst jetzt, zum Jubiläum, klar geworden. Wie wohl bei keinem anderen Chor waren diese 50 Jahre geprägt von den Verwerfungen deutsch-deutscher Geschichte. Eigentlich reicht die Tradition noch viel weiter zurück, bis 1791 nämlich, als Carl Friedrich Fasch den ersten gemischten Chor Deutschlands ins Leben rief. Diese „Sing-Academie zu Berlin“ sollte bei der Ausbildung des bürgerlichen Selbstbewusstseins im Staate Preußen eine wichtige Rolle spielen. Wer zu den intellektuellen Zirkeln der Stadt gehörte, sang aktiv mit oder ging wenigstens zu den Auftritten im Chorsaal gegenüber der Lindenoper. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber machten die Sowjets das Stammhaus zum Gorki-Theater, und durch den Mauerbau 1961 war der Hälfte der Mitglieder die Teilnahme an der Chor-Arbeit über Nacht verwehrt. Die Westler mussten alleine in einem Ausweichquartier weitermachen.

Doch bald forderten auch Künstler in der DDR eine Fortsetzung der stolzen Tradition. Weil Oratorien aber so gar nicht ins Kunstkonzept der sozialistischen Einheitspartei passten, sperrte sich der Staat gegen den Plan, in Ostberlin eine eigene Singakademie zu gründen. Erst als Hans Pischner 1963 Intendant der Lindenoper wurde, konnte er durchsetzen, dass seinem Haus ein neuer Laienchor angegliedert wurde. Zur Überraschung der Verantwortlichen wollten nicht nur ältere Herrschaften aus den Vorkriegs-Sangesvereinigungen mitmachen, sondern vor allem junge Leute. 200 von ihnen wurden aufgenommen, unter den Dirigenten Helmut Koch und Dietrich Knothe erarbeiteten sie sich bald einen hervorragenden Ruf, wurde zu offiziellen Anlässen eingesetzt, staatlich subventioniert und schließlich 1984 neben dem Berliner Sinfonie-Orchester zum Hausensensemble des wieder aufgebauten Konzerthauses erhoben.

Schon die Neugründung 1963 hatte in der Springer-Presse giftige Kommentare provoziert, argwöhnisch beobachtete auch die „Sing-Akademie zu Berlin“ den künstlerischen Aufstieg der Namensvettern im Osten. Als nach der Wende eine Wiedervereinigung der Chöre gefordert wurde, revoltierte die West-Seite mit Parolen, die unangenehm an Zeiten des Kalten Krieges erinnerten. In der gerade beim Bebra Verlag erschienenen Festschrift der „Berliner Singakademie“ formuliert Achim Zimmermann nun vorsichtig optimistisch: Der Impuls zu einem Zusammenschluss könne nicht von der Politik ausgehen, sondern nur von den Ensembles selber.

Die Entwicklung, die der längst von Mitte aus gemanagte „West-Chor“ seit 2006 genommen hat, legt tatsächlich eine Art Holdinglösung nahe. Unter der Leitung von Kai-Uwe Jirka nämlich macht die Sing-Akademie viel Basiskulturarbeit mit einem Schwerpunkt auf Kindern und Familien, während die Ex-Ost-Singakademie sich regelmäßig selber durch anspruchsvollste große Chorstücke auch des 20. Jahrhunderts herausfordert.

In der Ossietzky-Schule lässt Achim Zimmermann derweil nicht locker, springt auf, schneidet wilde Grimassen, lässt die Hand mit dem zum Dirigentenstab umfunktionierten Kugelschreiber in Richtung der Stimmgruppen vorschnellen. Und siehe da: Die nüchterne Mensa mit dem Neonlicht, dem abgelatschten Stäbchenparkett und den traurigen Kübelpflanzen wird erfüllt von einem vollen, prächtigen, leuchtenden Klang: „Wer bis an das Ende beharrt, der wird selig.“

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