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Blaues Wunder. Roncalli-Zirkusartisten im Tempodrom.

© Maurizio Gambarini/dpa

Berliner Silvesterkonzerte: Clowns und Händel

Tollkühne Zwölftonmusik, Robin Hood in Sektlaune, Glanz und Glimmer: Wie Berlin mit seinen Silvesterkonzerten ins neue Jahr feierte.

Im Programmheft gleich die erste Überraschung: Nicht vor, sondern während Beethovens 9. Symphonie soll Schönbergs „A Survivor from Warsaw“ gegeben werden, zwischen drittem und viertem Satz. Eine spannende Entscheidung. Vladimir Jurowski will im Silvesterkonzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin beide Werke nicht einfach nacheinander abhandeln. Sondern zeigen, dass das eine sehr viel mit dem anderen zu tun hat. Dass das humanistische Projekt, das Beethoven in seiner letzten Symphonie entwirft, nicht ohne die dunkle Seite, den Absturz in die totale Barbarei, zu denken ist. Aber mit dem Trost, dass am Ende doch das Finale steht. Dass noch etwas folgt.

Schönberg beim Rundfunk-Sinfonieorchester

Ganz sachte, wie aus dem Nichts, zieht der RSB-Chef die fallenden Terzen und Quarten der Einleitung auf. Und lässt eine grandiose Interpretation der Neunten folgen, sie dürfte zu den besten gehören, die in Berlin in letzter Zeit zu hören waren. Mit energetischen Feuerströmen im Allegro ma non troppo, einem sommernachtstraumhaften Scherzo und sängerisch-liedähnlich gestaltetem Adagio molto, inwendig glühend, voller unterschwelliger Dramatik. Mit Fortissimi wie Fiebertraumattacken, akribisch ausbuchstabierten, wie selbstironisch wirkenden Phrasen und immer wieder diesen langen, genau abgezirkelten Pausen und Zäsuren, in denen das Gehörte nachhallen kann. Und nachwirken. Gespielt wird mit Gustav Mahlers Retuschen, die vor allem Hinzufügungen sind, am sichtbarsten im ausgebauten Streicherapparat mit acht Bässen, deutlich mehr als zu Beethovens Zeit. Die dadurch gesteigerte Dynamik hat Jurowski bestens im Griff, Klarheit und Pathos halten sich gegenseitig in Schach.

Völlig organisch, als sei’s eine Symphonie in fünf Sätzen, wirkt die Einfügung von Schönbergs Oratorium über Grauen und jüdische Hoffnung im Warschauer Ghetto, die zwölftönige Musik ist trotz ihrer extremen Konstruiertheit dramatisch und packend. Mit archaischer Sprachgewalt dringt der Bass von Sprecher Dietrich Henschel auch in die letzten Ecken des großen Saals im Konzerthaus, bevor der Rundfunkchor das Shema’ Yisroel, ein zentrales Gebet, anstimmt. Der Finalsatz wird damit schon vorbereitet, für einen atemlos-irritierenden Augenblick ist nicht klar, wo Schönberg endet und Beethoven wieder einsetzt, so passgenau schließt das eine ans andere an.

Spektakulär langsam lässt Jurowski das Solistenquartett (Christina Landshamer, Maria Gortsevskaya, Torsten Kerl und wiederum Dietrich Henschel) singen. Die gedehnten Tempi geben den Partien, die sonst schnell etwas hilflos-Geschraubtes bekommen, endlich Fassung, Halt und Sinn.

Hört man sie jetzt anders, die Freudenode, mit Schönbergs Notschrei im Ohr? So ganz zu trauen war dem Jubel sowieso nie. Der Abend erinnert eindringlich daran, was „Alle Menschen werden Brüder“ wirklich ist: keine Zustandsbeschreibung, sondern eine Aufforderung, ein Projekt. 2018 und danach. Udo Badelt

Händel im Konzerthaus

Ich bin Europäer! So eröffnet der Dirigent Alexander Shelley seine Ansprache beim Silvesterkonzert im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Danach verspricht der Engländer ein deutsch-britisches Programm, damit 2017 nicht so traurig endet, wie es angefangen hat. Das Konzert soll an die Brücken erinnern, die der Kontinent gebaut hat und nicht an die Abgründe, in die er nach diesem Jahr schaut. Passend dazu beginnt der Abend mit einer schmissigen Version von Otto Nicolais Ouvertüre zur Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“. Das Stück nach Shakespeare zeigt die engen Verbindungen zwischen den europäischen Traditionen. Nächstes Beispiel: Georg Friedrich Händel. Der Deutsche war im Herzen halber Angelsachse und auf der Insel erfolgreicher als zu Hause. Die zwei Stücke, die das Orchester aus der „Feuerwerksmusik“ spielt, gelingen subtil in den Tiefen, glasklar in den Höhen. Besonders imposant wirkt auch Händels Konzert für Orgel und Orchester F-Dur, zu dem der Star-Organist Cameron Carpenter auf die Bühne kommt. Der amerikanische Punk, in knallbuntem Anzug gekleidet, verwandelt das Werk in einen spektakulären Parforce-Ritt durch alle Register des menschlichen Empfindens. Man will sich geradezu in den Sitz krallen, als der Abschlussakkord ertönt.

Dirigent und Orchester sind jetzt in bester Laune und bringen sich in Rage. Erst spielt das Ensemble Mendelssohns Scherzo aus der Bühnenmusik zu Shakespeares „Der Sommernachtstraum“, dann wird Edward Elgars „Enigma-Variationen“ ausgepackt. Es eignet sich bestens für ein Abschlusskonzert, schließlich blickt Elgar in dem Stück auf seine neurotischen Freunde zurück, woraus kuriose Charakterstudien entstanden sind. Die Bläser klingen keck, die Streicher so klar und ungestüm wie ein britisches Militärorchester. Es rumst und kracht und knallt an allen Ecken. Die Musiker rutschen in eine muntere Sektlaune, von der auch Erich Korngolds „Robin Hood and his Merry Men“ beflügelt wird. „Pomp and Circumstance“ ist der krönende Abschluss eines pointenreichen Konzerts: Dirigent und Orchester beginnen zunächst leise und behutsam, steigern sich langsam in ein resolutes Mezzoforte und poltern in ein orgiastisches Finale hinein, als wären sie in Gedanken schon auf der Party. Tomasz Kurianowicz

Bernstein im Tempodrom

Mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, wieder zu Gast beim Circus Roncalli im weihnachtlich geschmückten Tempodrom, ist pure Sektlaune angesagt. Zumal mit einem rein amerikanischen Programm aus Film und Musical eine extrovertiertere Fröhlichkeit herrscht, weniger romantische Poesie als in früheren Jahren. Mit John Wilson – dieser allerdings ein akribischer, hochpräziser Brite – steht ein Experte am Dirigentenpult, der auch als Musikwissenschaftler und Rekonstrukteur verloren gegangener Musical-Partituren von sich reden gemacht hat. Mit schmissigen Bläserakzenten und sattem Streichersound stellt Leonard Bernsteins „Candide“-Ouvertüre sofort klar: Wir leben, frei nach Voltaire, in der besten aller möglichen Welten, da gibt es keine Zweifel, keine Ab- und Jenseitigkeit.

Wenn dann Kim Criswell das „Dingeding“ und „Klingeling“ des „Trolley-Songs“ von Hugh Martin zu dem fröhlichen Gewusel des „Circustheaters Bingo“ intoniert, dann entsteht eine verspielte, heile Kinderwelt. Überall ist Glitzer und Glimmer ausgestreut, rot und lindgrün schimmern die Abendroben der Musikerinnen, Criswells effektvolle Paillettengewänder passen zum einschmeichelnden „Girl in Satin“ von Leroy Anderson, zu „My Fair Lady“ – optisch aufgefrischt von jonglierenden Einradfahrern – zu Richard Rogers Walzer aus „Carousel“. Wie tollkühne Artisten, Schlangenglieder-Frauen und traurige Clowns im Rhythmus der Musik agieren, und mit dem Publikum spielen, das ist grandios.

Gebrochen wird die lebensfrohe Verspieltheit durch Bernsteins „Mambo“ aus „Westside Story“ zur halsbrecherischen Trampolin-Show der kanadischen „Catwell Trampos“ – ein Hauch Großstadt-Realismus. Doch muss es wirklich das Thema aus „Schindlers Liste“ sein, um mit Byol Kangs ausdrucksstarkem Violinsolo etwas Melancholie zu Lili Pauls ästhetischen Verrenkungen zu zaubern? „There’s No Business Like Showbusiness“ kann Criswell mit Irving Berlins „Annie Get your Gun“ da triumphierend behaupten.

Die hinreißende Ironie, zu der diese Sängerin fähig ist, kann sich aber in solchen Songs kaum entfalten, dazu bedarf es schon der Vielschichtigkeit eines Weill oder Gershwin. Und bei Gershwins Ouvertüre zu „Crazy Girl“ läuft auch das Orchester zu Höchstform auf, fetzig im „I Got Rhythm.“ Isabel Herzfeld

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