zum Hauptinhalt
Kaum eine Geigerin spielt so ausdrucksstark wie Janine Jansen.

© Hugo Burnand

Berliner Philharmoniker: Die Wiederentdeckung des Rued Langgaard

Die Berliner Philharmoniker graben ein Werk aus, das sie vor 109 Jahren uraufgeführt haben. Und Janine Jansen begeistert mit Sibelius' Violinkonzert.

Das ist der Zauber von Klassik-Live-Konzerten: Die Streicher setzen an im Pianissimo – und sofort ist die Welt da draußen vergessen, entrückt in weite Ferne. Es existiert nur noch dieser Saal, erfüllt von Schallwellen, was zählt, ist allein die Gemeinschaft von Musiker:innen und Publikum, die zusammengekommen sind, um sich gemeinsam nur auf eine einzige Sache zu konzentrieren: den unwiederholbaren Moment, in dem die Noten zum Leben erweckt werden.

Sicher, nicht jedes Orchester kann den Beginn des Violinkonzertes von Jean Sibelius so dicht, so faszinierend und fesselnd spielen wie die Berliner Philharmoniker, und es gibt auf der Welt nur eine Handvoll Geigerinnen, die an die Intensität heranreichen, mit der Janine Jansen den Solopart interpretiert. Mit ihrer Hier-geht-es-ums-Äußerste-Art packt sie das Publikum unmittelbar, ihre Triller sind raumgreifend, die Akzente maximal markant, die Rosshaare ihres Bogens scheinen förmlich zu glühen.

Die Leute lauschen atemlos

Wie eine Kuppel wölbt sich der Orchesterklang über der Solistin, dunkel, verschattet, so dass allein Janine Jansen akustisch ins Zentrum rückt. Mit einer Leidenschaft, die das Leiden kennt, durchmisst sie die zerklüfteten Seelenlandschaften des Eröffnungssatzes, lässt im Adagio die Geige gefühlstrunken singen. So atemlos lauschen die Leute, dass sich die Spannung in der Satzpause in vielen Verlegenheitshustern entladen muss.

Janine Jansen gibt den Zuhörer:innen die nötige Zeit zur Sammlung - und stürzt sich dann mit raubtierhafter Angriffslust ins Finale. Danach ist der Saal schier aus dem Häuschen, die Künstlerin strahlt und bedankt sich mit einer hauchzarten Bach-Zugabe.

Maßlose Musik, uraufgeführt 1913

Nach der Pause ermöglicht Dirigent Sakari Oramo die Wiederbegegnung mit einer Sinfonie, die die Berliner Philharmoniker vor 109 Jahren uraufgeführt haben. Gerade zwanzig war der dänische Komponist Rued Langgaard damals, und es mangelte ihm nicht an Selbstbewusstsein. Fünfsätzig ist diese „Klippen-Pastorale“, 65 Minuten lang, die Partitur fordert eine Hundertschaft an Mitwirkenden. Wuchtig geht es los, spätromantisch-pathetisch, Langgaard türmt Tongebirge auf, überrollt das Publikum förmlich mit seinem Dauerespressivo.

Maßlose Musik ist das, oft nur mit behaupteter Erregung, die Oberflächenreiz bleibt, mit viel Ursache ohne Wirkung. Aber sie klingt nicht epigonal, ist kein Abklatsch von Bruckner, Mahler oder Strauss. Am ehesten hört man noch Wagnersche Wendungen heraus, vor allem bei den stark geforderten Hörnern, Trompeten, Posaunen und Tuben. Die Sätze tragen suggestive Titel, die „Sage“ raunt bedeutungsschwanger, „Bergan!“ wird mit schwerem Schritt marschiert. Atmosphärisch am attraktivsten sind „Die Blumen der Berge“, ein Naturidyll in pudrigen Pastelltönen.

Nur ein weiteres Mal hat Rued Langgaard seine 1. Sinfonie noch im Konzert hören lassen, das Autograph schlummerte bis 2004 unbeachtet in einem Regal der Berliner Staatsbibliothek. Mit dem dänischen Kulturestablishment lag der Komponist bis zu seinem Tod 1956 ständig im Clinch, viele Werke blieben unaufgeführt. Jetzt erst kommt langsam eine Wiederentdeckung dieses Außenseiters in Gang, in Berlin machte die Deutsche Oper den Anfang, mit seinem szenischen Oratorium „Antikrist“. Das Philharmonie-Publikum kann sich Donnerstag durchaus für das Dröhnen des Dänen erwärmen, und dankt dem Orchester mit langem Beifall für die kollektive Kraftanstrengung.

Zur Startseite