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Berlins Côte d’Azur. Blick auf die nördliche, die Sonnenseite

© Mike Wolff

Berliner Mauern (8): Wellen, Wasser, Wein

An der Spree zwischen Friedrichstraße und der Weidendammer Brücke liegen die Ufermauern. Hier ist die Stadt so urban wie nirgends.

Ein massives Bauwerk, das einhegen und schützen, aber auch trennen und begrenzen kann. Mura, Murus – das Wort ist althochdeutschen und lateinischen Ursprungs. Den Steinbau haben die Germanen von den Römern übernommen. Keine Zivilisation ohne Mauern. Was sie bedeuten können, hat im 20. Jahrhundert keine Stadt schmerzhafter erfahren als Berlin. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall existieren hier immer noch Mauern. Unsere Serie blickt dahinter.

Ausflugsschiffe durchpflügen die Spree, Weißweingläser klirren, ein Lüftchen weht vom Wasser her. Dicht an dicht reihen sich Kneipen und Restaurants am Schiffbauerdamm, auf der nördlichen, der Sonnenseite des Ufers. Als erstes hat sich hier 1997 die „Ständige Vertretung“ angesiedelt, bis heute die bekannteste Lokalität der Ecke. Könnte eine der schönsten, entspanntesten Orte Berlins sein. Könnte. Denn das Wasser ist zwar nah, doch unerreichbar. Unmittelbar neben den Tischen ragt das Feindbild jedes Flaneurs in die Höhe: Bauzäune. Dahinter hantieren Arbeiter mit schwerem Gerät, Staub flimmert in der Luft, es ist laut. Das Berliner Wasserstraßen-Neubauamt (WNA) saniert auf 226 Metern die Ufermauer zwischen der Eisenbahnbrücke am Bahnhof Friedrichstraße und der Weidendammer Brücke.

In einem Bürocontainer, zwei Gehminuten von der „Ständigen Vertretung“ entfernt, entfaltet Gerald Kühn einen langgestreckten Plan. Der 56-Jähriger ist Baubevollmächtigter für die Baustelle, er arbeitet für das WNA Berlin seit dessen Gründung 1990. Sein Amt muss man unterscheiden vom Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt (WSA), das für die Kanäle und Flüsse zuständig ist, während sich Kühns Behörde um Baumaßnahmen kümmert. Beide gehören zum Bundesverkehrsministerium. Denn auch wenn es wahrscheinlich kein Ausflügler realisiert, der sich auf dem Oberdeck an seinem Pils erfreut: Die Spree ist eine Bundeswasserstraße, Teil einer Verbindung zur Oder. Kühn erläutert, was hier gerade passiert: „Historisch haben wir es zwischen den beiden Brücken nicht mit einer, sondern mit zwei Ufermauern zu tun.“

Die Ältere im westlichen Abschnitt wurde um 1850 aus Ziegeln errichtet, die jüngere entstand 1930 aus Stahlbeton und war damals bereits Teil einer Sanierungsmaßnahme. Sie ist, von außen nicht sichtbar, hinten mit schräggestellten Verankerungen gesichert. Heute stehen beide Ufermauern auf unsicherem Grund. Wie das Ufer vor 1850 aussah, ob es vielleicht eine Böschung war, darüber kann man nur mutmaßen. Offenbar hat es hier einen Damm gegeben, an dem sich tatsächlich Schiffbauer ansiedelten, die Straße trägt ihren Namen seit 1738.

Vielleicht ist Berlin nirgendwo so städtisch, so verdichtet, so urban wie am Bahnhof Friedrichstraße. Vieles kommt hier zusammen: der Bahnhof selbst, dessen Gleise seit dem Bau der Stadtbahn die Spree überspannen, die gründerzeitliche Wohnbebauung, die Theater in unmittelbarer Nähe, die Friedrichstraße, die den rund 2,50 Meter tiefen Fluss auf der Weidendammer Brücke überquert, im Untergrund die U-Bahnlinie 6 und dazu noch der für die Olympischen Spiele 1936 gegrabene Tunnel der Nord-Süd-S-Bahn. Und der Ausflugsverkehr, natürlich.

Es ist ein sonniger Tag, man hat fünf, manchmal sechs Boote gleichzeitig im Blick, ein regelrechtes Wasserballett. Manche müssen stoppen, dazu dreht sich die Schiffsschraube rückwärts, um nicht abzudriften. Der Fluss schäumt weißlich auf. „Sehen Sie, so entstehen Schäden“, erklärt Kühn. Zu Teilungszeiten waren hier kaum Schiffe zu sehen, von ein bisschen Güterverkehr abgesehen.

Aber seit 1990 hat die Personenschifffahrt enorm zugenommen, der Abschnitt zwischen Schloss und Reichstag ist der am stärksten belastete. Der jahrzehntelange Wellenschlag hat die Fundamente der Mauern von 1850 und 1930, die auf Eichenholzstämmen ruhen, unterspült. Der Boden ist feinkörnig, besteht aus Mudde und Schluff. Taucher stellten 2003 fest, dass sich Aushöhlungen gebildet haben, dass die Sohle der Spree unterhalb der Ufermauern „unterkolkt“ ist.

Seit 2006 sicherte eine Spundwand aus Stahl das Ufer vor zu viel Wellenschlag. Seither saßen die Gäste in den Lokalen nicht mehr unmittelbar am Wasser, sondern blickten auf die so genannte Hinterfüllung zwischen Spundwand und historischem Mauerwerk. Auch die Mündung der Panke war jetzt nicht mehr sichtbar. Auch sie gehört zum urbanen Panorama dieses Ortes, ihr südlicher, in einem Rohr geführter Arm fließt genau hier in die Spree. Auch wenn die Panke nur ein kleiner Bach ist: Die Mentalität von Städten wird geprägt durch ihre Wasserlage, durch Flussufer, Seen oder Küsten, und die Panke ist immerhin – neben Spree, Dahme, Wuhle und Havel – eines der fünf natürlichen Fließgewässer Berlins, ihre Mündung also ein für die Siedlungsgeschichte der Stadt symbolisch bedeutsamer Punkt. Der durch die Spundwand 2006 aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist.

Nun kehrt er zurück: Im Oktober 2018 begannen die Sanierungsmaßnahmen, die Gerald Kühn so erläutert: „Die beiden historischen Mauern werden nicht entfernt, wir bauen eine neue Stahlbetonmauer davor.“ Und jetzt wird es kompliziert. Denn um Baufläche zu gewinnen, wurde vor die Spundwand von 2006 eine zweite Spundwand gesetzt, die komplett wieder verschwinden wird. Die Spundwand von 2006 bleibt drin, ist inzwischen aber bis auf Wasserhöhe abgeschnitten. Durch die Hinterfüllung wurden 166 neue, 24 Meter lange Betonpfähle getrieben. Sie bilden das Fundament für die neue „Winkelstützmauer“, die so heißt, weil ihr Fuß ein Element bildet, das im 90-Grad-Winkel zur eigentlichen neuen Mauer steht. Auch die Berliner Mauer war so konstruiert, an der East Side Gallery kann man das noch besichtigen.

Wir setzen uns Helme auf und gehen auf die Baustelle. Die Ziegelsteine der 1850er-Mauer sind noch sichtbar, in ihnen ist der Name der Stadt eingraviert, in der sie gebrannt wurden: Rathenow. Auch die neue Mauer ist teilweise schon gegossen, aber noch mit Holz verschalt. „Der Beton muss 28 Tage aushärten“, erklärt Kühn. Im Frühjahr 2020 soll alles fertig sein, dann wird die neue Mauer mit Sandstein verblendet, so dass ein einheitliches Erscheinungsbild entsteht. Wir gehen rüber zur Pankemündung: Träge fließt das Wasser aus der Schwärze des Rohres ans Tageslicht. Fast scheint es, als stünde das Wasser. Auch diese Mündung, die so genannte Schiffbauerdammbrücke, wird neu gebaut, aber später nicht als Brücke erkennbar sein, da sie vollständig in den Straßenverlauf integriert ist. Da die Panke ein Landesgewässer ist, baut hier der Senat.

Wenn vor die alten Ufermauern eine neue Mauer gesetzt wird – bedeutet das, dass die Spree am Ende schmaler wird? „Ja, um etwa zwei Meter“, bestätigt Kühn. Oben entsteht rund ein Meter neue Straßenfläche, die wie alles Land, das in Deutschland dem Wasser abgerungen wird, automatisch dem Bund gehört. „Wenn das vertraglich geregelt ist, können die Wirte auch ihre Tische draufstellen.“, sagt Kühn.

Also noch ein paar Monate durchhalten, dann ziehen die Bauarbeiter ab und die Gäste können auf neuem Land wieder direkt ans Wasser rücken. Und dieser Abschnitt könnte endlich das werden, wozu er aufgrund seiner Lage prädestiniert ist: eine Promenade, urban und hübsch. Vielleicht entsteht sogar ein neues geflügeltes Wort: „Die Côte d’Azur haben wir zwar nicht, aber der Schiffbauerdamm ist auch nicht schlecht.“

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