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Auferstanden aus einer Ruine. Die Immobilie Haus der Statistik lässt Künstler und Immobilienentwickler träumen. Auf dem Dach steht der dazu passende Schriftzug „Allesandersplatz“.

© Thilo Rückeis

Berliner Haus der Statistik: Biotop filigraner Dysfunktion

Zum Abschluss der Art Week: Künstler beleben das Haus der Statistik – ein seltener Freiraum im gentrifizierten Zentrum.

„Das Haus ist in Bewegung und wird niemals fertig sein“, hat Bernadette La Hengst mit ihrem Chor gedichtet, „denn Städte sind lebendig, sie atmen aus und ein“. Dieses Haus, „ein Biotop in filigraner Dysfunktion“, wie es weiter in dem Songtext heißt, steht am Alexanderplatz – und im Zentrum der Art Week, die am heutigen Sonntag zu Ende geht.

Filigrane Dysfunktion ist eine hübsch formulierte Untertreibung. Das Haus der Statistik – ein riesiger 60er-Jahre-Komplex aus vier Gebäuden, der einst die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik der DDR beherbergte – wird derzeit entkernt, Bauarbeiter laufen durch die leeren Gänge, auf dem Boden ist noch zu erkennen, wie die Bürozellen einst zugeschnitten waren, der Wind pfeift, denn auch die Fenster sind schon entfernt.

Im Hof wachsen Schuttberge und Pflanzen in die Höhe. Bald wird die Sanierung beginnen, noch wirkt alles abbruchreif und chaotisch. Doch genau darin liegt ein Reiz, auch für die Musikerin und Theaterregisseurin Bernadette La Hengst.

Riesen-Megafon für Chor der Statistik

Sie gehört zu den Künstlern, die dem Haus oder jedenfalls seinem Erdgeschoss seit ein paar Monaten neues Leben geben und sich auf der Art Week jetzt einer breiten Öffentlichkeit vorstellen. Jeden Mittwoch hat La Hengst, in den 90er Jahren Sängerin der Hamburger Band Die Braut haut ins Auge, Interessierte aus der Nachbarschaft und darüber hinaus zum Texten und Singen eingeladen.

Die Lieder des „Chors der Statistik“ tragen Titel wie „Die Häuser denen, die drin wohnen“ und „Wem gehört die Parkbank?“ Während der Art Week hatte die etwa 60-köpfige Truppe zwei Auftritte. Im Hof des „Hauses der Statistik“ steht eine Art Riesen-Megafon, aus Spanplatten zusammengebaut, das der Chor für seine Performances verwendet.

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Die künstlerischen und sozialen Freiräume der Stadt gehen verloren, sagt Bernadette La Hengst. Die von ihrem Chor besungenen Themen sind an vielen Orten der Art Week präsent: Berlin hat sich in den vergangenen Jahren tiefgreifend verändert, auf die Künstler folgte die Gentrifizierung – wem gehört die Stadt heute, und wohin entwickelt sie sich?

Haus der Statistik am "Allesandersplatz" (Alexanderplatz) in Berlin-Mitte.
Haus der Statistik am "Allesandersplatz" (Alexanderplatz) in Berlin-Mitte.

© Thilo Rückeis

La Hengst, gebürtige Ostwestfälin, kam vor 15 Jahren nach Berlin. Sie zog in einen Genossenschaftsbau in Mitte, „kurz vorm Wedding“, in dem sie bis heute wohnt. Drumherum wurden nach und nach Brachen zugebaut, alte Lokale schlossen, denn die Wirte konnten die gestiegenen Mieten nicht mehr bezahlen. Stattdessen machten Hipster-Cafés auf. „Das letzte unsanierte Haus in meiner Straße existiert, glaube ich, nur noch, damit dort alle zwei Wochen ein Film übers Berlin der 90er gedreht werden kann. Gerade passiert das mal wieder.“

How not to be Berlin

Sehnsucht nach den Nachwendejahren schwingt auch bei der neuen Ausstellung im C/O Berlin mit, wo Fotos aus Berliner Clubs gezeigt werden (siehe „Sonntag“, Seiten 6/7). Und eine ebenfalls im Rahmen der Art Week eröffnete Schau im Neuen Berliner Kunstverein zeichnet eindrucksvoll nach, wie die Politik den Mythos der damaligen Zeit einerseits nutzt und ihm andererseits durch Grundstückverkäufe buchstäblich den Boden entzieht, weil es nun zunehmend an bezahlbarem Wohnraum mangelt.

Zu „1989-2019: Politik des Raums im Neuen Berlin“ gehört zum Beispiel der Animationsfilm „How not to be Berlin“. Eine amüsante bis schaudererregende Collage aus Versatzstücken der städtischen Werbekampagne. Diese bedient sich reichlich zeitgeistgemäßer, zunehmend sinnentleerter Schlagworte. Bunt, kreativ, weltoffen, dynamisch, frei, innovativ ist Berlin angeblich, um nur einige Beispiele zu nennen.

Das ist die Inszenierung der Marketingstrategen, so soll die Stadt wirken. Auf einer Leinwand am Eingang der Ausstellung werden dagegen Daten und Fakten präsentiert. Sie betreffen die Privatisierung seit der Wende. Drei Jahrzehnte liegt der Mauerfall zurück, damals schienen die Raumressourcen der Stadt durch die Zusammenführung von Ost- und Westteil schier unerschöpflich, ein Anlass, zurückzuschauen.

Von 1989 bis 2017 habe die Stadt 21 Millionen Quadratmeter Grundstücksfläche verkauft, steht in der Ausstellung zu lesen, das entspreche der Größe des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Die Einnahmen in Höhe von fünf Milliarden Euro reichen nicht mal, um die Kosten für den BER zu decken.

Autoscooter im Hof vom Haus der Statistik am "Allesandersplatz" (Alexanderplatz) in Berlin-Mitte.
Autoscooter im Hof vom Haus der Statistik am "Allesandersplatz" (Alexanderplatz) in Berlin-Mitte.

© Thilo Rückeis

Haus der Statistik am "Allesandersplatz" (Alexanderplatz) in Berlin-Mitte während der Berlin art Week.
Haus der Statistik am "Allesandersplatz" (Alexanderplatz) in Berlin-Mitte während der Berlin art Week.

© Thilo Rückeis

In den kommenden Wochen werden in den Räumen des Kunstvereins fünf Diskussionsrunden zum Thema mit Künstlern, Architekten und Forschern stattfinden. „Das eine Berlin gibt es nicht, dafür viele Mythen und Imaginationen, was Berlin sein soll“, heißt es in einem Faltblatt zur Ausstellung. Die Macher selbst haben allerdings eine klar erkennbare Vorstellung davon, was Berlin sein sollte – und vor allem, was nicht.

In der Videoinstallation „Die Sprache der Spekulation“ werden Begriffe erklärt, die den Verkaufsbroschüren und Immobilienanzeigen von Luxusprojekten etwa um die East Side Gallery und im nördlichen Kreuzberg entnommen sind. Von „Asset Deal“ über „Ensuite Bad“ und „Loft“ bis zu „Young Urban Professional“. Das Feindbild, der Gegenentwurf zum freien Künstler, ist damit klar umrissen. Sind Kapital und Kreativität in jedem Fall Gegensätze? Für eine wirklich interessante Debatte müsste man auch mal diese Frage stellen.

Der Gentrifizierungsfalle entgehen

Die Initiative, die hinter dem „Haus der Statistik“ steht, hat ein Konzept entwickelt, von dem sie hofft, dass es langfristig funktioniert – und damit der Gentrifizierungsfalle entgeht. Der Komplex, der ursprünglich Bundeseigentum war, steht seit gut zehn Jahren leer, zuletzt waren hier die lokale Außenstelle des Statistischen Bundesamts und die Stasiunterlagenbehörde untergebracht.

2015 hing die „Allianz bedrohter Berliner Atelierhäuser“ einfach ein Plakat an die Fassade. „Hier entstehen für Berlin Räume für Kunst, Kultur und Soziales“, stand darauf. Mit dieser Aktion ging alles los.

Mittlerweile hat der Senat die Gebäude erworben, damit wurden Pläne für einen Verkauf an Investoren und der geplante Abriss verhindert. Nach der Sanierung soll unter anderem das Rathaus Mitte einziehen, aber eben nicht nur. Ziel ist eine breite Nutzung, und das schließt Kunst und Kultur mit ein.

Pioniernutzer für ein maximales Miteinander

„All das, was sich langfristig hier wiederfinden soll, wird jetzt in einer improvisierten Situation erprobt“, erklärt Harry Sachs vom ZK/U – Zentrum für Kunst und Urbanistik. Er ist einer der Mitbegründer der „Initiative Haus der Statistik“. In den vergangenen Monaten hat ein Gremium aus etwa 100 Bewerbern sogenannte „Pioniernutzer“ ausgewählt. Dabei hätten sie großen Wert auf die richtige Mischung gelegt, sagt Sachs, für ein „maximales Miteinander“, ein lebendiges Stadtquartier.

Fassade des Haus der Statistik am "Allesandersplatz" (Alexanderplatz) in Berlin-Mitte.
Fassade des Haus der Statistik am "Allesandersplatz" (Alexanderplatz) in Berlin-Mitte.

© Thilo Rückeis

Haus der Statistik am "Allesandersplatz" (Alexanderplatz) in Berlin-Mitte während der Art Week.
Haus der Statistik am "Allesandersplatz" (Alexanderplatz) in Berlin-Mitte während der Art Week.

© Thilo Rückeis

Also: große und kleine Akteure, die sich auch für gemeinsame Projekte zusammenfinden sollen. Raum für Installationen wird es geben, für Künstler aller Art, aber zum Beispiel auch ein Repair-Café, einen Gemeinschaftsgarten, Räume für den Verein Freies Radio Berlin, für Jugendprojekte und die Stadtmission.

Was zähle, sei das Gemeinwohl. „Insgesamt haben wir 10 000 Quadratmeter zur Verfügung.“ Gerade läuft noch eine Konferenz im Haus, bei der Sachs und seine Mitstreiter sich mit Vertretern ähnlicher Initiativen aus aller Welt austauschen, unter anderem aus Mexiko und Indonesien.

Bernadette La Hengsts Chor wird sich nach der Art Week weiter treffen. „Wahrscheinlich alle zwei Wochen“, sagt die Musikerin, „wer interessiert ist, findet die genauen Zeiten online.“ Bis Dezember soll das Leben in dem Gebäudekomplex weitergehen. Dann wird man vorübergehend schließen müssen. Denn der Winter dürfte kalt werden in einem Haus ohne Heizung. (Die Ausstellung „1989-2019: Politik des Raums im Neuen Berlin“ ist bis zum 13. Oktober im Neuer Berliner Kunstverein zu sehen, Chausseestraße 128/129, nbk.org. Mehr zur „Initiative Haus der Statistik“ unter hausderstatistik.org.)

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