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Aby Warburgs " Bilderatlas Mnemosyne" in der Rekonstruktion im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

© Silke Briel / HKW

Berliner Haus der Kulturen der Welt: Der Bilder-Atlas von Aby Warburg

Das Haus der Kulturen der Welt rekonstruiert Aby Warburgs legendären „Mnemosyne“-Atlas, der Motive der Antike mit der Gegenwart verknüpft.

Fotografien respektive fotografische Reproduktionen auf stoffbespannten Tafeln anzuordnen, kommt uns heute altertümlich vor. Im Haus der Kulturen der Welt sind nun weit über 60 solcher Tafeln arrangiert. Sie hängen zu je etwa zehn an Segmentbögen vor den Außenseiten des großen Ausstellungssaales. Auf den Tafeln sind insgesamt 971 leicht angegilbte Reproduktionen angeordnet, bis auf Ausnahmen in Schwarz-Weiß.

Aby Warburg, der Kunsthistoriker und Privatgelehrte, arbeitete mit diesen Abbildungen auf Papier, in unterschiedlichen Formaten und Bearbeitungszuständen. Er zog Vergleiche und arrangierte überraschende Konstellationen. Was Warburg anstrebte, war nicht einfach die Illustration eines Gedankenganges. Es war ein Denken in Bildern. Warburgs Methode geht zurück auf die Bilderatlanten, die ihm aus Kindertagen vertraut waren, Erzeugnisse jenes 19. Jahrhunderts, das alles erfassen und kategorisieren wollte – Wissenschaft als Anhäufung.

Der qualitative Sprung indessen, den Warburgs Bilderatlas mit dem Titel „Mnemosyne“ darstellt, besteht in der gedanklichen Verknüpfung der Abbildungen. Sie sind nicht nur Belege, sondern selbst Stationen von Metamorphosen, die bestimmte Urbilder in Zeit und Raum durchlaufen. Das bleibt der für immer mit seinem Namen verbundene Gedanke Warburgs, dass solche „Urbilder“ – er nannte sie „Bilderfahrzeuge“ – aus der Antike herüberragen, andere Gestalt annehmen, doch in ihrem innersten Bedeutungsgehalt erhalten bleiben, manche bis in die Gegenwart und womöglich in ganz profanen Zusammenhängen. So prangt auf Tafel 77 ein Papier mit dem Produktnamen „Hausfee“ – „hygienisch unübertroffenes Abortpapier“ wird angepriesen.

Das ist eine Ausnahme in der ehrwürdigen Versammlung hochrangiger Kunstwerke zu mythologischen und biblischen Themen und Topoi, aber eine treffende. 1929 weilte Warburg in Rom, um einen Vortrag zu halten, ein Probelauf zum Bilderatlas. Zugleich nahm er aktuelle Ereignisse wahr: den Abschluss der Lateranverträge zwischen dem Vatikan und der Mussolini-Regierung. So kam es, dass Pressefotos der Feierlichkeiten im Bilderatlas Aufnahme fanden. In ihnen entschlüsselte Warburg das zeitgenössische Fortleben antiker Gesten, der von ihm so bezeichneten „Pathosformeln“.

Warburgss Mammutwerk ist der griechischen Götin des Gedächtnisses gewidmet

Das Fortleben der Antike ist Warburgs Thema. Seine Bildersammlung mit dem programmatischen Namen der griechischen Göttin des Gedächtnisses erläuterte er als „Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance“. Das ist ein zwar riesiges, gleichwohl umgrenztes Feld; die derzeitige Warburg-Rezeption versucht hingegen die zugrunde liegende Methode auf alles Bildliche anzuwenden. Warburg lädt dazu ein, wenn er Pressefotos, Briefmarken und Klopapier einbezieht. Damit erteilt er vermeintlich die Lizenz zu uferlosem Schweifen durch alles, was Bild ist.

Aby Warburg (1866–1929) hatte die Fertigstellung seines Bilderatlas bereits im Blick. Er selbst wollte zwei Textbänden einen „Atlas mit etwa 2000 Abbildungen“ beigeben. Das irritiert, insofern als die im Laufe des Jahres 1929 fotografisch festgehaltenen 63 Tafeln lediglich 971 Reproduktionen zeigen. Geplant waren, der Nummerierung zufolge, 79 Tafeln; es gibt also Fehlstellen – Tafeln, die Warburg noch nicht in eine endgültige gedankliche Ordnung gebracht hatte.

Querverbindungen. Rekonstruktion der Tafel 39 von Warburgs Bilderatlas.
Querverbindungen. Rekonstruktion der Tafel 39 von Warburgs Bilderatlas.

© Wootton/fluid. The Warburg Institute London

Um die 971 Reproduktionen geht es. Die Kuratoren Roberto Ohrt und Axel Heil haben im Londoner Warburg Institute, dem Exilort der 1933 gerade noch aus Nazi-Deutschland verbrachten Bibliothek Warburgs, die inzwischen dort versammelten 400 000 Fotografien durchforstet und rund 80 Prozent der tatsächlich von Warburg benutzten Abbildungen ausfindig gemacht. Die restlichen 20 Prozent sind teils nicht mehr vorhanden, teils unter Stichwörtern eingeordnet, die rein gar keinen Hinweis auf die Verwendung im Bilderatlas mehr erlauben. „Hätten wir ein paar Monate mehr Zeit“, so Ohrt im Gespräch, „könnten wir wohl einen Teil der fehlenden Bilder noch identifizieren.“ Was nun auf den liebevoll wiederhergestellten Tafeln versammelt ist, gibt Warburgs Denken wieder, so, wie er die Tafeln bei seinem Tod hinterließ.

Eine vollständige Ausgabe des Warburg-Atlasses ist im Folio-Format erschienen

Doch nicht nur die Ausstellung ist die Frucht der aufwendigen Recherche. Zugleich ist im Verlag Hatje Cantz eine vollständige Ausgabe des Bilderatlas im Folio-Format erschienen – mit dem Makel, dass er in keinen Bücherschrank passt. Mit ganzseitigen Abbildungen aller Tafeln in Farbe, sodass die unterschiedliche Farbigkeit der eingegilbten Reproduktionen und ihrer Passepartouts zur Ansicht kommt. Und es werden alle 971 Bilder erläutert, um ihre Beziehungen untereinander nachvollziehbar zu machen. Der tischgroße Folio-Band tritt künftig an die Stelle der bisherigen, auf den Aufnahmen der Stofftafeln von 1929 beruhenden Ausgabe von Martin Warnke innerhalb der gesammelten Schriften Warburgs.

Und es gibt außerdem die Ausstellung im Kulturforum, in der die Gemäldegalerie diejenigen Kunstwerke im Original zeigt, die Warburg aus den Sammlungen der damals Preußischen Museen für seinen Atlas herangezogen hatte (noch bis 1. November). Originale zu versammeln, war nie Warburgs Absicht; er setzte sich, wo es ihm angebracht schien, über unterschiedliche Größen souverän hinweg und vergrößerte oder verkleinerte Abbildungen nach seinen Bedürfnissen.

Der Bilderatlas war ein work in progress, er blieb unabgeschlossen. „In der Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt tritt der skizzenhafte und experimentelle Charakter hervor“, betont Co-Kurator Ohrt. Doch sei jetzt zu erkennen, „wie stringent das Vorhaben durchgeführt worden ist“. Es tut not, sich seines präzisen Forschungsprogramms zu entsinnen. Und so sollten die Tafeln betrachtet werden: als Zeugnisse einer überragenden Gelehrsamkeit.
Haus der Kulturen der Welt, bis 30. November; Infos unter hkw.de/bilderatlas. – Roberto Ohrt, Axel Heil u. a. (Hrsg.): Aby Warburg. Bilderatlas Mnemosyne – The Original. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2020, 184 S. (in englischer Sprache), 200 €.

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