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Ganz am Anfang. Die Ausstellungsräume der Galerie Poll 1968 in der Charlottenburger Niebuhrstraße.

© Jochen Littkemann

Berliner Galerie Poll: 50 Jahre kritische Kunst

Vor 50 Jahren eröffnete die West-Berliner Galerie Poll, die inzwischen in Mitte residiert. Eine persönliche Würdigung.

Eine Leiche liegt erstarrt im Wüstensand, im Hintergrund ein Panzerwrack, daneben in einem extra Bildrahmen Nase und aufgerissener Mund mit Zähnen, ein Zoom der Leiche vermutlich, eine stumme Anklage gegen den Krieg. „Sinai“ (400 Euro) heißt diese kleine Radierung lapidar, die Älteren wissen, was gemeint ist – eine Szene aus dem Sechs-Tage-Krieg von 1967, der Tote vermutlich ein ägyptischer Soldat.

Die Radierung von Peter Sorge entstand 1968, jenem unruhigen Jahr, in dem der Protest der Studenten gegen die festgefahrenen Strukturen um die Welt ging, in dem etwas aufbrach, das die Welt verändern sollte. 1968 endete auch das vierjährige Experiment der legendären Selbsthilfegalerie Großgörschen 35 in Schöneberg, deren Mitbegründer Peter Sorge war. Die Gruppe der „Kritischen Realisten“, wie sie bald genannt wurde, brach auseinander, die Künstler hatten keine Heimat mehr. „Macht doch ihr die Galerie“, hieß es dann lapidar im Ton der Zeit. Lothar C. Poll, Geschäftsführer von Großgörschen 35 und seine Frau Eva Poll gründeten daraufhin im selben Jahr in der Niebuhrstraße die Galerie Poll – und eröffneten mit Peter Sorge.

Fast 30 Jahre Residenz am Lützowplatz

Er ist so etwas wie die Galionsfigur der Galerie geworden, der mit seinem kritischen Realismus ansteckend, motivierend wirkte. Als Schüler aus Saarbrücken besuchte ich bei meinem ersten Aufenthalt 1972 in West-Berlin die Galerie Poll in dem etwas heruntergekommenen Haus am Kurfürstendamm, die in schönen Galerieräumen den kritischen Realismus zum Programm erhoben hatte. Ich wollte in Berlin Kunst studieren, die amerikanischen Fotorealisten, die 1972 auf der Documenta gezeigt wurden, waren technisch brillant, aber mir inhaltlich zu glatt. Da hatten Peter Sorge, Wolfgang Petrick, Ulrich Baehr und Hermann Albert mehr zu bieten. Ich abonnierte damals das „Berliner Kunstblatt“, das recht preiswert über die West-Berliner Kunstszene in großen Anzeigen mit Bild informierte – und Herausgeber war die Interessengemeinschaft Berliner Kunsthändler, die Eva Poll mitgegründet hatte. Die Kunst der kritischen Realisten bewog mich sogar, 1973 nach West-Berlin zu ziehen, um hier Kunstpädagogik an der HfbK in der Grunewaldstraße und Germanistik an der FU zu studieren. Aus dem Kunststudium wurde nichts, aber als Tagesspiegel-Leser verfolgte ich mit großem Interesse die Berichterstattung des damaligen Feuilletonchefs Heinz Ohff, der die Großgörschener und die Künstler der Galerie Poll treu begleitete – erst am Kurfürstendamm und seit 1979 am Lützowplatz, wo die Galerie fast 30 Jahre residieren sollte.

Peter Sorge: "Sinai", Radierung von 1968. Das Blatt bezieht sich auf den Sechs-Tage-Krieg 1967. Vermutlich handelt es sich um einen toten ägyptischen Soldaten.
Peter Sorge: "Sinai", Radierung von 1968. Das Blatt bezieht sich auf den Sechs-Tage-Krieg 1967. Vermutlich handelt es sich um einen toten ägyptischen Soldaten.

© Ripke, Galerie Poll

Damals war die Kunstszene übersichtlich, es wurde regelmäßig berichtet. Auch in der Abendschau. Und Heinz Ohff rezensierte immer wieder Peter Sorge. Bald war ich im Besitz dreier kleiner Grafiken von Sorge, denn die Politik der Galerie war es, Kunst auch erschwinglich zu halten und so waren Kataloge mit einer signierten Vorzugsausgabe ein guter Einstieg. Überhaupt die Publikationen: Mit den Katalogen und Werkverzeichnissen hat die Galerie einen wertvollen Beitrag zur Kunstgeschichte der Stadt geleistet.

In den achtziger Jahren werden die Zeichnungen größer, farbiger

Nun feiert die Galerie Poll – wie schon bei vergangenen Jubiläen – wieder mit einer Ausstellung zu Peter Sorge: „Does sex cause cancer?“ nach einer gleichnamigen Grafik von 1969 benannt, ihren 50. Geburtstag in den Galerieräumen in der Gipsstraße, wo sie seit 2015 unweit des Kunstviertels der Auguststraße ihr neues Domizil gefunden hat. Vor 15 Jahren hatte Heinz Ohff zum 35. Geburtstag der damaligen Sorge-Ausstellung am Lützowplatz den Status des „Vormuseums“ verliehen. Inzwischen ist Sorge Kunstgeschichte, aber immer noch aktuell – und eine Ausstellung im Museum lange überfällig.

Die Hand des Zeichners im Bild. In den 80er Jahren wurden Peter Sorges Zeichnungen größer und farbiger - hier "Autonome" (1985/86)
Die Hand des Zeichners im Bild. In den 80er Jahren wurden Peter Sorges Zeichnungen größer und farbiger - hier "Autonome" (1985/86)

© Ripke, Galerie Poll

Mit der Radierung „Gall is sweet my love“ von 1964 (350 Euro), begann Sorge die Technik der ineinander verschobenen Bilder. Er sammelte, was durch die Medien auf ihn einwirkte, Pressefotos von Krieg und sexueller Gewalt, von Waffen und aufgepumpten Muskeln. Heute lesen sich diese Zeichnungen und Radierungen wie Ikonen ihrer Zeit, so auch die drei Radierungen „Heißer Sommer I,II und III“ von 1967 (zusammen 1800 Euro). Sorge verdichtet Realität durch meisterhaft gezeichnete und radierte Collagen, seine Gemälde aus den frühen sechziger Jahren wirken dagegen relativ glatt. In den achtziger Jahren werden die Zeichnungen größer, farbiger, wie die beiden Werke „Schwarzer Ballon II und III“ aus der Mitte der achtziger Jahre (je 6500 Euro), die immer noch sehr aktuell wirken. Anrührend ist das wohl privateste große Gemälde „Die Welt ist voll Licht“ (25 000 Euro), das 1979 er zusammen mit seiner Frau Maina-Miriam Munsky geschaffen hat. Es zeigt Sohn Daniel am Fenster vor einer heilen und oben am Himmel einer vermüllten Welt – welch eine Zukunft erwartet ihn?

In der Serie "Schwarzer Ballon" griff Peter Sorge Themen der 80er Jahre auf, bei dieser großen Farbzeichnung ging es um Giftmüll, Umweltverschmutzung und Rechtsradikalismus. Das Blatt bleibt aktuell.
In der Serie "Schwarzer Ballon" griff Peter Sorge Themen der 80er Jahre auf, bei dieser großen Farbzeichnung ging es um Giftmüll, Umweltverschmutzung und Rechtsradikalismus. Das Blatt bleibt aktuell.

© Ripke, Galerie Poll

Ein Hauch von West-Berlin

Das Programm der Galerie ist in den fünfzig Jahren nicht auf die kritischen Realisten beschränkt geblieben, wohl aber hat die Galerie allen modischen Erscheinungen zum Trotz der figurativen Malerei die Treue gehalten. Sie hat sich 1983 an der Ausstellung „Mensch und Landschaft in der zeitgenössischen Malerei und Graphik“, der ersten Schau westdeutscher Kunst in Moskau beteiligt und 1988 als erste Privatgalerie mit „Szene Moskau“ vier Künstlerinnen und Künstler nach Berlin geholt. Nach der Wende wurde das Spektrum erheblich erweitert. Seit 2012 arbeitet nun Nana Poll in der Galerie mit, setzt neue Akzente mit einer jungen Generation von Künstlern.

Im Schaulager der Galerie zeugen die Blätter der Editionen, die Plakate und die vielen Einladungskarten vom breiten Spektrum des Realismus in den letzten fünfzig Jahren und der Geschichte der Galerie. 1986 gründeten Eva und Lothar C. Poll die Kunststiftung Poll, die sich vor allem um Künstlernachlässe, aber auch die Erstellung von Werkverzeichnissen der Künstler kümmert: Im Prinzip leistet sie hier Arbeit, die man von einem Museum erwarten würde. So ergänzen im zweiten Stock in den Räumen der Kunststiftung weitere Gemälde des im Jahr 2000 verstorbenen Peter Sorge, von Hermann Albert und Reinhart Lange das Panorama der frühen Jahre. Ein Hauch von West-Berlin weht durch diese Ausstellungen und zeugt von der ungeheuren künstlerischen Vitalität jener Zeit.

Galerie Poll, Gipsstr. 3; bis 3. 11., Di–Sa 12–18 Uhr. Publikation „Abenteuer Kunst. 50 Jahre Galerie Poll“, 144 S., 25 Euro.

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