zum Hauptinhalt
Drinnen und draußen. Eine Arbeit von Doug Wheeler im immersiven Gropius-Bau.

© Berliner Festspiele/2014 Doug Wheeler. Courtesy David Zwirner, New York; Photo: Tim Nighswander

Berliner Festspiele: Was eigentlich heißt immersiv?

Modeerscheinung immersive Kunst – was wollen die Berliner Festspiele und das „Dau“-Projekt damit?

Ein Unbehagen am Kulturbetrieb breitet sich aus. Es ist aber vor allem im Betrieb selbst zu spüren. Immer häufiger trifft man auf die Ansicht, die Kunst sei nicht mehr in der Lage, gegen die Wirklichkeit zu bestehen – gegen eine Vielzahl von digitalen und analogen Realitäten.

Da kommt die „immersive Kunst“ ins Spiel. Es ist mehr als ein Modewort, eher schon eine Bewegung, angetrieben von Kulturmanagern wie Thomas Oberender, die darin eine einmalige Chance sehen, sich zu profilieren und abzusetzen vom Mainstream. Was auch ein sicheres Rezept sein kann, in eben jenem Hauptstrom zu verschwinden. Als immersiv preisen sich die Wiener Festwochen und die Ruhr-Triennale an, auf Santorini gibt es eine Immersivia-Biennale.

Unter Oberenders Leitung haben sich die Berliner Festspiele der Immersion verschrieben. Ein eigenes großes Festspielhaus brauchen sie dafür nicht. Immersive Theaterprojekte zielen meist auf eine sehr kleine Zuschauerzahl. Man kennt natürlich nicht den Ausgang des Experiments, aber man macht sich Sorgen um diese Berliner Institution.

Was also bedeutet Immersion? Durch die bisherigen Aktivitäten der Festspiele ist es nicht klar geworden. Oder so viel: Das Immersive lebt von Vernebelung. Das Online-„Lexikon der Filmbegriffe“ erklärt die Sache so: „Im Sprechen über virtuelle Realitäten fasst man als Immersion Art und Maß des Eintauchens des Benutzers in die virtuelle Welt. Insbesondere das Empfinden einer haptischen Beteiligung an den Vollzügen in der Kunstwelt wird dabei als Hinweis auf Immersion angesehen. Immersion als das Eintauchen in eine computergenerierte Welt ist für die Entwicklung der Computerspiele von zentraler Bedeutung.“

Einige Punkte sind hier wichtig: das Eintauchen, das Virtuelle, das Programmierte. Aber das ist nicht neu. Hat starke Kunst nicht immer schon bewirkt, dass der Zuschauer, die Besucherin aufgeht in einem die Sinne umfassenden Erlebnis? Richard Wagners Idee der Oper als Gesamtkunstwerk, Christoph Schlingensiefs Prozessionen, Jan Fabres Marathonaufführungen, die Filmreisen eines Andrej Tarkowski, Prousts Bücher „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, Beethovens Streichquartette – wer könnte solche tiefen Berührungen je vergessen? Kann es ein immersiveres Bildbetrachten geben als die visuelle Erfahrung von Barnett Newmans „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV“, das derzeit im Hamburger Bahnhof hängt?

Eine autoritäre Kunstform

Und wer verfügt, dass eine Kunsterfahrung immersiv sein muss, dass die Distanz zum Werk verschwindet? Hier zeigt sich ein weiteres Charakteristikum dieser seltsamen Disziplin: Immersion hat etwas Autoritäres. Viele dieser Arbeiten sind aufdringlich. Bei der von Thomas Oberender und Tino Sehgal kuratierten Ausstellung „Welt ohne Außen“ im Martin-Gropius-Bau waren die dort aufgebauten immersiven Räume entweder grell beleuchtet oder stockfinster. Es war zum Teil ohrenbetäubend laut. In anderen Ecken sollte man sich entspannen.

Immersion als inszenierte Vereinnahmung – mit oder ohne 3D-Brille, aber mit Ansage. Nicht wenige Konsumenten finden das schick, verwechseln Gängelung mit Teilhabe. Das immersive, partizipative Spiel ist abgekartet und oft banal.

Jetzt wollen die Berliner Festspiele noch tiefer in diese nebulöse Welt eintauchen. Sie treten bei der geplanten Stadtinszenierung „Dau“ als Veranstalter auf. Für vier Wochen soll in Berlin-Mitte um die Staatsoper und Kronprinzenpalais herum eine künstliche Sowjetwelt entstehen, inmitten einer massiven neuen Berliner Mauer. In diesem stalinistischen Disneypark soll es Konzerte, Konferenzen, Perfomances geben – und die Filme des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovsky, der bislang unsichtbar geblieben ist. Finanziert wird das 6,6 Millionen teure Immersiv-Spektakel von dem russischen Unternehmer Sergej Adoniev.

Auf die Frage, wozu das alles nötig sei, antworten die „Dau“-Leute, es gehe um einen geschützten Kunstraum, um das Erlebnis von Unfreiheit um der Freiheit willen. „Dau Freiheit“ lautet der vollständige Titel in Berlin, dann soll es in Paris und London weitergehen. So vieles an diesem Projekt und am Auftritt der „Dau“-Adepten ist irritierend, ja skandalös.

Bei ihrer Pressekonferenz am vergangenen Dienstag fiel nebenbei der Name Kirill Serebrennikow. Der russische Regisseur befindet sich seit einem Jahr in Hausarrest. Ihm wird die Unterschlagung staatlicher Subventionen vorgeworfen. Kein Wort der Unterstützung für Srebrennikow kam von Oberender, kein Wort von dem Kameramann Jürgen Jürges, nichts von Kirsten Niehuus vom Medienboard Berlin-Brandenburg, nichts von der Kuratorin Nina Pohl, nichts von Tom Tykwer, der sich, wie er sagt, in das „Dau“-Projekt „verknallt“ hat.

Noch schwerer wiegt, dass der Fall Oleh Senzow nicht angesprochen wurde. Senzow hungert seit mehr als 100 Tagen, verweigert eine Zwangsernährung und die Einweisung in ein Krankenhaus. Senzow siecht dahin in einer Strafkolonie in einem Viermannzelt. Er hatte angeblich Anschläge auf der Krim geplant und ist zu zwanzig Jahren Haft verurteilt; ein politischer Gefangener. Senzow und Serebrennikow haben große internationale Solidarität erfahren. Nicht von den „Dau Freiheit“-Mauerbauern in Berlin.

Man muss sehen, was da geschieht. Die Berliner Festspiele und viele andere Persönlichkeiten des Kulturlebens begeben sich hinein in einen russischen Finanz- und Kunstkomplex und schweigen zum Elend ihrer Kollegen im Putin-Reich. Es gibt noch einen kritischen Punkt: Khrzhanovskys Filmmaterial entstand in Charkiw, einer Stadt in der Ostukraine. Sie liegt am Rand des Kriegsgebiets. Auch diese Tatsache wird von „Dau“ ausgeblendet.

Hier bietet sich nun eine Begriffsklärung an: Immersion bedeutet Unterwerfen. Die „Dau“-Unterstützer verbeugen sich vor der Allmachtsfantasie eines Künstlers, der eine Sehnsucht nach totalitären Strukturen erfüllt. Künstler probieren, weil es ihnen wohl in der Demokratie langweilig wird, ein bisschen Diktatur aus. Hinter der Übung steht das Geld eines Unternehmers, der mit Mobilfunklizenzen in Russland reüssiert hat. Das geht dort nicht ohne Kontakte der Geheimdienste. All das ist nicht unbedingt illegal, schon gar nicht in Russland, aber das muss nicht der ideale Partner für eine vom Bund finanzierte Einrichtung wie die Berliner Festspiele sein.

Welche Freiheit meinen sie?

Sollte „Dau Freiheit“ von den Berliner Ämtern genehmigt werden, wird man dort mit Visa einreisen. Dazu, so heißt es, müsse man Daten liefern, wie bei einem digitalen Esta-Antrag vor der Einreise in die USA. „Dau“-Besucher geben an der „Grenze“ ihr Handy ab und bekommen ein „Device“ in die Hand, das sie durch die immersive Welt leitet. Sponsor Adoniev hat Erfahrung im Smartphone-Geschäft. Wer garantiert, dass Besucherdaten nicht abgeschöpft werden? Datenklau mit „Dau“? Es wäre eine freiwillige Preisgabe, wie bei so vielen Gelegenheiten im Netz, bei denen die Menschen sich ohne zu zögern nackt machen. „Dau“ kopiert nur die allgemeine Praxis der digitalen Libertinage. Aber ist das Kunst?

„Fake News“ bedeutet in der Vorstellung von US-Präsident Donald Trump kritische Presse; er würde sie am liebsten verbieten. Die Parallelwelt, wie sie Trump gefällt, lebt auf „Fox News“ und in Steve Bannons Verschwörungstheorien. Sie sind hochgradig immersiv und subversiv. Und erfolgreich. Trump stört sich an CNN und der „Washington Post“, nicht aber an russischen Hackern, Agenten und Finanzleuten, die US-Systeme durchdringen. „Dau“ erinnert von fern an diese unfasslichen Vorgänge.

Andere schwerreiche Russen leisten sich englische Fußballclubs, das hier ist eine kulturelle Offensive, ein Coup: Mit russischem Kapital wird in Berlin die Mauer wiederaufgebaut. Sie soll uns daran erinnern, dass wir in Freiheit leben dürfen. Falls wir das vergessen haben. Dafür dürfen wir noch einmal in ein abgesperrtes Lager eintreten.

Thomas Oberender sagte auf der Pressekonferenz etwas Seltsames. Die Veröffentlichungen über „Dau“ seien zur Unzeit gekommen. Es sei etwa so, als verhandelten Kaufhof und Karstadt über eine Fusion, und es gelangten Einzelheiten an die Öffentlichkeit. Vielleicht war es ja nur ein Witz. Aber es klang nach viel Geld und wenig Transparenz.

Geheimhaltung, falsche Fährten: Auch das ist Immersion. In letzter Konsequenz nah an der Gehirnwäsche.

Zur Startseite