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Ausnahmetalent. Die junge Lili Boulanger.

© George G. Bain Collection

Berliner Cappella ehrt Lili Boulanger: Vor dem Untergang

Das Leid einer ganzen Generation: Die französische Komponistin Lili Boulanger starb 1918 mit nur 24 Jahren. Im Konzerthaus ehrt die Berliner Cappella das Ausnahmetalent und ihr eindringliches Werk.

Europa am Beginn des 20. Jahrhunderts: Alte Traditionen werden gebrochen, es gibt einen Aufschwung der künstlerischen Kreativität – und doch existiert daneben auch schon die dunkle Vorahnung eines drohenden Untergangs. In Paris ist eine junge französische Komponistin drauf und dran, die Musikgeschichte ihres Jahrhunderts nachhaltig zu prägen – ehe sie 1918 stirbt, im Alter von nur 24 Jahren.

Bei wohl nur wenig anderen Komponisten dieser Zeit findet sich in der Musik eine so starke Übereinstimmung der Gefühle eines ganzen Kontinents mit denen eines privaten Leids wie bei Lili Boulanger, die es, zeit ihres kurzen Lebens von Krankheit geschwächt, dennoch auf fast 50 höchst bewegende Kompositionen brachte. Grund genug für die Berliner Cappella, dieser bemerkenswerten Frau erneut einen Abend im Konzerthaus zu widmen, zusammen mit der Kammersymphonie Berlin.

Musik mit enormer Sogwirkung

Das Konzert beginnt mit Boulangers kurzem, eindringlichem Werk „Pour les Funérailles d'un Soldat“ (Totenfeier für einen Soldaten) aus dem Jahr 1912. Das festlich-traurige und atmosphärisch dichte Stück mit Baritonsolo (David Pichlmaier) reizt den Kontrast aus zwischen romantischer Schönheit – wenn Harfen und Sopran die Vorahnung des Paradieses beschwören – und der martialischen, von Trommelwirbel und Blechbläsern akzentuierten Realität dieser Zeit.

Anschließend stellt Maike Bühle, seit einem Jahr Nachfolgerin Kerstin Behnkes bei der Berliner Cappella, Lili Boulangers „Du Fond de l'Abîme“, einer Vertonung des 130. Psalms, Joachim Raffs „De Profundis“ gegenüber, dem derselbe Psalm zugrunde liegt. Die 1867 entstandene Komposition des einst geschätzten, heute weitgehend unbekannten Deutschen mit Schweizer Wurzeln wirkt fast eine Spur zu zuversichtlich angesichts des Hilferufs nach göttlicher Gnade, von dem der Text handelt.

Raff, der von Franz Liszt gefördert wurde, sich aber diplomatisch aus dem Streit der romantischen Schulen seiner Epoche heraushalten wollte, bewegt sich im Korsett musikalischer Konventionen. Lili Boulanger dagegen sprengt sie mutig, vertont die französische Übersetzung des Bußpsalms auf psychologisch einfühlsame Weise: Schon die ersten Takte, in der die Tuba und ein bedrohlich tiefer Orgelklang dominieren, entwickeln einen enormen Sog, der den Hörer in eine Welt von Spannung und Schmerz zieht, in der es fast unmöglich erscheint, das private Leid einer Komponistin von dem einer ganzen Generation zu trennen.

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