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Kleiderfrage. 2010, im Jahr ihres Todes, fotografierte Sibylle Bergemann noch in Venedig. Ihre Porträts entstanden an ungewöhnlichen Orten der Stadt.

© Loock Galerie, Nachlass Sibylle Bergemann, Ostkreuz

Berliner Ausstellungen zu Sibylle Bergemann: Visionen von Schönheit und Landschaftsbilder des Verfalls

Die Berliner Galerien Loock und Kicken erinnern an die große Fotografin Sibylle Bergemann mit Modefotografien und Vintageprints, die das frühere Berlin festhalten.

„Ich kann gar nicht schlafen, wenn ich an all das denke, was ich fotografieren möchte“, hat Sibylle Bergemann gesagt. Wer so viele Bilder im Kopf hatte, der hinterlässt ein reiches Lebenswerk: Die Aufnahmen liegen in dem von Bergemanns Tochter gehütetem Archiv und ermöglichen es zwei Berliner Galerien, Loock und Kicken, daraus in einer Art konzertierter Aktion gleich zwei sehr unterschiedliche Ausstellungen zu konzipieren - und eine bunte Mischung in den Reinbeckhallen Oberschöneweide als Zugabe. Zum genannten Anlass, dem 75. Geburtstag der 2010 im Alter von 69 Jahren verstorbenen Künstlerin, kommt diese Ausstellungswelle allerdings ein Jahr zu spät.

Aus dem Gedächtnis der Fotofreunde war der Name nie. Die Kette der Würdigungen, Retrospektiven und wiederholten Präsentationen ihrer fotografischen Ikonen in Gruppenausstellungen riss bis heute nicht ab. Viele Arbeiten sind den Lesern der einst begehrten, darum rasch vergriffenen DDR-Zeitschrift „Sibylle“, die bis 1995 erschien, fest in Erinnerung. Umso erstaunter dürften gerade diese Fans sein, wenn sie jetzt feststellen, dass die Modefotografie - oder das Fotografieren ausgesuchter Models - mit dem Ende des legendären Journals für Sibylle Bergemann keineswegs obsolet geworden war.

Apotheose von Farbe und Stil

Unter dem Sachtitel „Frauen. Und in Farbe“ offeriert Loock, ergänzt durch eine Anzahl älterer Aufnahmen etwa ein Dutzend um die Jahrtausendwende entstandene Arbeiten, wo zur Exotik der Kleider die Exotik ferner Städte wie Dakar in Senegal oder antiker Orte im Jemen hinzugekommen ist. Frauen in leuchtend farbigen, fußlangen Kleidern streifen durch schattige Gassen, biegen um eine Hausecke oder steigen sanften Schritts drei Stufen herab. Eine Welt des Friedens tut sich auf, dessen Gefährdung durch Armut und Bürgerkrieg man nicht sieht.

Nur zuweilen ragt die Realität ins fotografische Design, etwa wenn die Fotografin eine Imbiss-Bude entdeckt, die am Rande einer Wüstenstraße für Nescafé wirbt, oder wenn sie in einer Hauptstraße von Dakar das pittoreske Nebeneinander eines einsamen Straßenkreuzers mit Dutzenden Pferdekutschen in eine sorgsam kadrierte Draufsicht bannt (3200 Euro pro großformatiger Abzug).

Aber auch Models in Venedig, Lissabon und nicht zuletzt in der morbiden Atmosphäre eines Gutshauses in Hoppenrade bei Berlin, wo Sibylle Bergemann und ihr späterer Ehemann Arno Fischer in den siebziger Jahren drei einstmals herrschaftliche Räume als Atelier gemietet hatten, passten den Loock-Kuratoren in diese Apotheose von Farbe und Stil. Das beeindruckende, schwarzweiße Porträt der jungen Katharina Thalbach von 1973 (Preis: 5000 Euro) hat sich irgendwie dazwischen verirrt. In diesem Fall ist einmal das Gesicht die Hauptsache und sagt der offene Blick viel.

Porträtfotografie war für Bergemann etwas Neues und sollte auch nie ganz ihre Stärke werden. Entgegen der Behauptung im Loock-Pressetext stand die Berlinerin eben nicht in der Tradition eines August Sander und tat sich schwer, jemanden en face aufzunehmen. Viel lieber fixierte sie Personen in Räumen. Aus Farbaufnahmen wurden bezaubernde fotografische Gemälde. Nur dass dieser vermeintlichen Schönheit oft der Widerspruch innewohnt zwischen dem Stil und der erschöpften Gebärde der Models, die zu müde waren, um noch posieren zu können. Der modische Faltenwurf, die Farbigkeit des Kleids - alles ist Zitat eines Lebens im Glanz.

Rückblick in eine vergangene Zeit

Eine ganz andere Seite von Sibylle Bergemann zeigt sich bei Kicken mit 23 sorgfältig gearbeiteten, schwarzweißen Vintageprints aus den siebziger und achtziger Jahren (Preise: 5000-8000 Euro). Grau in grau sahen die tristen Straßen und enge Hinterhöfe in Prenzlauer Berg, und doch halten die Aufnahmen etwas von der Lebenssphäre der Leute fest, sei es durch ein Klettergerüst für die Kinder an der Hofmauer oder die Wäschestücke auf der Leine. „Der Rand der Welt“ heißt dieser Rückblick in eine vergangene Zeit, wo das Ausharren im Verfall das beste Thema der Fotografie war.

Die um Arbeiten von Roger Melis, Helga Paris und Arno Fischer ergänzte Kollektion lässt etwas ahnen von der unterirdischen Unruhe jener Jahre, auch der Unruhe der Fotografin selbst, die sich damals gern unerwünschte Sujets aussuchte. Ein besonders schönes Beispiel für subversive Metaphorik gelangen ihr mit dem Frontalbild dreier Spaziergänger, die auf einem Berliner Trümmerberg die Nase in den Wind stecken, nur weg von den Plattenbauten hinter ihrem Rücken. Die Szene erinnert an die visionären Landschaftsbilder Wolfgang Mattheuers.

Durch die Mode- und Modellfotografien für „Sibylle“ schimmerte oft eine unbestimmte Vision durch, eine Vision der Schönheit und eines Lebens jenseits der erstarrten Realität. Vielleicht war es nun wieder eine Vision, die Sibylle Bergemann - bald im Bewusstsein ihrer tödlichen Krankheit - Aufträge für exotische Modefotografien annehmen ließ. Beide Seiten dieses fotografischen Werks laufen, nur scheinbar nebeneinander stehend, auf eine Sehnsucht hinaus, die man auch Utopie nennen kann.

Loock Galerie, Potsdamer Str. 63, bis 11.8., Di-Sa 11-18 Uhr; Kicken Berlin, Linienstr. 161 A, bis 1. 9., Di-Fr. 14-18 Uhr

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