Berlinale-Kolumne, Tag 11: Zauberwürfel unter Kronleuchtern
Fürs Finale geht unser Autor dahin, wo die Berlinale vor 71 Jahren begann. Für dieses Jahr zieht er jedoch eine negative Bilanz. Unsere Berlinale-Kolumne
Meine Berlinale-Bilanz ist eindeutig negativ: Ich hab immer noch kein Corona.
Das mit der Hygiene hatte durchaus Vorteile. Der Nebensitz im Kino blieb stets frei für meine Tasche. Vor mir saß auch keiner, der zwei Drittel eines Films vergeblich versucht, seinen Hustenanfall einzudämmen. Niemand hielt nach den Filmen endlose Monologe, die er als Frage an die Regisseurin deklarierte. Ach ja, zu trinken gab's dieses Jahr auch nichts. Nüchtern betrachtet hat die Berlinale überlebt – und selbst als Maskenball viele Menschen belebt.
Ein leichtes Leuchten als heller Schein. Das eigene Sein gegen das Nicht-Sein. Die Filme der Pandemie machen Mut, sind aber selten leicht. Der Mensch will weiterleben. Trotz seiner leichten Verletzlichkeit.
Alles begann mit einem Roadmovie aus Island
Dies hier ist meine aller-aller-aller-allerletzte Berlinale-Kolumne. Irgendwann müssen meine eckigen Augen zurück ins Runde.
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Für mich begann alles mit der Berlinale vor fast 30 Jahren. Ein Roadmovie in den apart zersplitterten Landschaften von Island fesselte mich für immer ans Kinofenster zur Welt. Als es nicht mehr weiterging, tauchte eine Fee auf und rettete alle. Gefeiert wurde das mit dem „Schwarzen Tod“. So heißt der selbstgebrannte Schnaps auf Island. Er vulkanisiert jeden Hals. Da kratzt selbst Omikron ab.
Auch diesmal beschloss ich mein Festival mit einem isländischen Film. Es ging um eine Jugendgang, neben dem Schnaps wurden auch andere Tode gestorben. Als es nicht mehr weiterging, kam eine Fee. Aus dem Nichts sollte wieder alles gut sein. So wie gerade bei der Corona-Politik.
"Steglitz stand Kopf"
Für die Berlinale begann alles vor 71 Jahren im Titania-Palast. Fast alle anderen Kinos waren damals ausgebombt. Der „Telegraf“ berichtete begeistert aus dem Südwesten der Stadt: „Steglitz stand Kopf. D. h. eigentlich stand es Schlange. Es stand Mauer. Die Polizei riegelte ganze Straßenzüge ab, als lägen hochentzündliche Minen in der Gegend.“ Seitdem hat Berlin gern viereckige Augen.
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Dieses Jahr kehrte das Festival zurück in den Titania-Palast. Im Saal hier hängen zwei Kronleuchter, vorm Film am extra angeleuchteten Vorhang läuft klassische Musik. Straßensperren gibt es nicht mehr – wenn man von überall parkenden Autos absieht.
Die bisherigen Berlinale-Kolumnen von Robert Ide:
- Mit Schlafbrille und Claudia Roth ins Kino - Auftakt der Berlinale auf der Viruswelle
- Von unfreiwilligen Erektionen und Schamhaartoupés - Wie Sex im Film wirklich funktioniert
- Marius Müller-Westernhagen und der Putzmann vom Potsdamer Platz - Wie man einen Filmriss übersteht
- Der Stoff auf unserer Haut - Atemmasken und Schönheitsmasken auf dem Festival
- Wie ich meine Liebe zu Juliette Binoche verlor - Der neue Film des Stars ist entschieden zu unentschieden
- Eine Grenzgängerin zwischen Ost und West - Weinen und Berlinern mit Bettina Wegner
- Im Keller der Berlinale wird ein Kino begraben - Über einen Film über das Ende des Films
- Das Leben eines Kritikers ist wie ein langer Film - Das Gefühl, mit anderen Menschen über Menschen nachzudenken
- Dokumentation des vergessenen Berlins - Die verlorenen Träume an der Allee der Kosmonauten
Meine schönste Szene der Berlinale sah ich vor einem Film. Eine junge Frau setzte sich neben mich ins Kinofoyer. Sie holte einen Zauberwürfel aus ihrem Rucksack, drehte verträumt die vermischten Farbenseiten hin und her, ihre Finger griffen vor und zurück, sekundenschnell wandelte sich der Würfel, Flächen wurden einheitlich, fast jedenfalls, wieder weggedreht, hier noch rum, da, zurück.
Eine Minute höchstens ist rum, die junge Frau sieht schon gar nicht mehr hin, der Würfel kreist um ihre Finger, hin, her, rüber, Drehung, fertig. „Cool“, sage ich, sie freut sich darüber. „Ich hab mir das im Lockdown beigebracht, ganz allein mit Youtube-Tutorials.“ Sie steckt den Würfel wieder ein. „Schön, dass ich es mal jemandem zeigen konnte.“ Dann steht sie auf und geht in den Saal. Warum gehen Menschen ins Kino? Wegen der Menschen.
Dies war meine aller-aller-aller-allerletzte Berlinale-Kolumne. Für dieses Jahr.
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