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Traditionshaus. Das Bundesplatz-Kino wurde vor zwei Jahren renoviert. Es hat 87 Plätze und neuerdings auch einen Digitalprojektor. Zur Eröffnung von "Berlinale goes Kiez" am Sonnabend laufen hier vier neue Folgen von "Berlin Ecke Bundesplatz".

© FotoL: Kitty Kleist-Heinrich

Berlinale goes Kiez: Schicksalsschlag & Schrippenglück

Expedition in den alten Berliner Westen: Die Langzeitdokumentation „Berlin Ecke Bundesplatz“ eröffnet die Reihe "Berlinale goes Kiez". Ein Treffen mit den Filmemachern und ein Besuch bei den Betreibern des Bundesplatz-Kinos.

Mal überlegen. Welches der Ladengeschäfte am Bundesplatz könnte die Bäckerei Dahms gewesen sein. Das da an der Ecke Wexstraße, wo’s jetzt Videos gibt? Das gegenüber, wo das Spielcasino drin ist? Oder das auf der anderen Seite der Bundesallee, Höhe Hildegardstraße, wo jetzt der Schlüsseldienst sitzt?

Gar nicht so einfach, diesen Platz zu Fuß zu umrunden. Der ihn aufspaltende Autotunnel hat absolut was dagegen. Unter den Füßen knirscht der Winter, in den Ohren braust der Verkehr, die Augen bleiben an Gründerzeitfassaden, Siebzigerbeton und einer spröden Metallskulptur in der Platzmitte kleben. Jeder brummt vorbei, hastet weiter, flieht. Bloß weg von hier. Der Bundesplatz will nicht, dass ihn die Leute lieben.

Hans-Georg Ullrich und Detlev Gumm tun es trotzdem. Schon 26 Jahre lang. Wobei ihr Bundesplatz nichts mit der städteplanerischen Katastrophe aus den Zeiten der autogerechten Stadt zu tun hat. Ihr Bundesplatz – das ist das Leben in einem Wassertropfen, der Mikrokosmos vor der Haustür, die Langzeitdokumentation im Kiez, kurz „Berlin Ecke Bundesplatz“. Ein von WDR, 3sat und RBB unterstütztes, 1986 gestartetes Fernsehfilmprojekt, dessen langen Atem nur die ebenso legendäre DDR- Langzeitdokumentation „Die Kinder von Golzow“ übertrifft. 60 Stunden Dokumentation, aufbereitet in 21 Filmen, umfasst „Berlin Ecke Bundesplatz“ inzwischen. Das ist komprimiertes historisches Material, Stadtansicht im Zeitraffer, West-Berliner Lebensgefühl, Wilmersdorfer Wandel, Gesellschaftskaleidoskop und vor allem jede Menge Leben, das aufgrund der schlichten, kommentarlosen Erzählweise Platz zum Mitfühlen, Mitwundern und – ganz wichtig – zur Selbstbefragung lässt.

Beim Dokumentarfilm komme und gehe man, sagt Detlef Gumm, dessen Leben – genau wie das seines Kompagnons Hans-Georg Ullrich – vielfach auch privat mit denen ihrer Helden aus dem Bundesplatz-Kiez verschmolzen ist. „Denn wir sind nicht wieder gegangen, sondern geblieben.“ Diese Hartnäckigkeit feiert die Berlinale mit den vier neuen und zugleich letzten Filmen von „Berlin Ecke Bundesplatz“, die am Sonnabend als Special zur Eröffnung der Reihe Berlinale goes Kiez im Bundesplatz-Kino laufen. Gleichzeitig erscheint eine DVD-Edition, Claudia Lenssens Buch „Berlin Ecke Bundesplatz“ (Bebra-Verlag) und eine Online-Präsentation der Deutschen Kinemathek (www.berlin-ecke-bundesplatz.de).

"Wir haben nie etwas gestellt"

„Der Schlüsseldienst an der Bundesallee? Nee“, schüttelt Hans-Georg Ullrich den Kopf, „die Bäckerei Dahms war hier gleich um die Ecke in der Mainzer Straße, da wo jetzt die Versicherung ist.“ Ach da! Der Laden ist auf dem Weg zum Ladenbüro von Känguruh-Film in der Weimarischen Straße zu sehen, „Signal Iduna“ steht groß drüber. Statt Schrippen gibt es jetzt Policen. Seit 1980 hat Bäcker Dahms hier gebacken und seine Frau im Laden verkauft, wie der Bundesplatz-Film „Bäckerei im Kiez“ beschreibt. Das ist wohl das, was man ein einfaches anständiges Leben nennt. Bis Schicksalsschläge kommen, erst der Krebs, dann die Armut. Der Bäcker ist beim Drehschluss im vergangenen Jahr bereits tot, seine Witwe holt die Schrippen bei der „Berliner Tafel“. Da haben es die Protagonisten der anderen Filme „Feine Leute“, „Schornsteinfegerglück“ und „Vater, Mutter, Kind“ besser getroffen. Das reiche Anwaltsehepaar, der Schornsteinfegermeister oder die Familie des BVG-Zugabfertigers. Obwohl auch sie Ereignissen, wie dem nach Wilmersdorf nur als fernes Echo dringenden Mauerfall und privaten Wechselfällen des Lebens unterworfen sind.

Die Filmemacher Gumm und Ullrich, Ersterer 65, Letzterer 70, hat das Beobachten von ursprünglich rund 30 Protagonisten über die Jahrzehnte etwas gelehrt: „Das Menschenleben ist hauptsächlich Beständigkeit“, sagt Hans-Georg Ullrich. Niemand ändert über Nacht sein Leben, nur weil er es sich einfach so überlegt hat. „Veränderungen geschehen nur durch Schicksalsschläge.“ Und Detlef Gumm fügt an, „Kindererziehung hat nur mit Vorleben zu tun“. Diese nicht überraschenden, aber für Romantiker des eigenen Lebens schwer verkraftbaren Erkenntnisse, haben den Herren von Känguruh-Film offensichtlich nicht zugesetzt. Sie sitzen ergraut, aber munter in ihrem einfachen, mit Plakaten vieler preisgekrönter Dokus geschmückten Büro. Beide hat das Langzeitprojekt beglückt, dem sie seit 26 Jahren jeweils eine Hälfte des Jahres gewidmet haben. Für sie ist es eine Schule der Weisheit und der Lebenserfahrung geworden, die sie nur beenden, weil die Geschichten auserzählt und die Kräfte allmählich endlicher sind.

„Die Wirklichkeit ist spannender als jede Fiktion“, zitiert Ullrich ein altes Dokumentaristen-Credo. Er verabscheut Fernsehformate wie Dokufiktion und Scripted Reality, die die Realität nur suggerieren. „So was ist derart perfide, dass ich abschalten muss.“ Trotzdem fragt man sich auch bei „Berlin Ecke Bundesplatz“ ab und an, inwieweit gefilmtes nicht unbedingt inszeniertes, aber doch beeinflusstes Leben ist. Etwa, als das an Politik sonst nicht sichtbar interessierte Ehepaar Dahms zu einem Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz aufbricht. Natürlich sei das deren Idee gewesen, sagen die Filmemacher, auch weil Herr Dahms dort in der Nähe geboren sei. „Wir haben nie etwas gestellt oder initiiert, höchstens mal beim Organisieren geholfen.“ Alle Silvesterfeiern oder Kindsgeburten sind in dem einem Moment miterlebt. „Unser Anspruch ist Redlichkeit“, sagt Detlef Gumm. Sonst hätten sie keine Programmatik, keine Botschaft, keine Wahl. „Dokumentarfilm ist einfach unsere Ausdrucksform.“ Und den Bundesplatz, wo sie 1986 per Zetteleinwurf bei 1200 Nachbarn um Interessierte warben, haben sie nur deshalb gewählt, weil er so unspektakulär ist. Das ging, wie Hans-Georg Ullrich sagt, ganz ohne soziologisches Konzept.

Das Publikum des Bundeplatzkinos ist komunikativ und gut informiert

Im Bundesplatz-Kino allerdings, das die neuen Filme jetzt zeigt, da schließt sich für ihn persönlich ein Kreis. Da war Ullrich schon als kleiner Junge drin. Die 1,35 Mark Eintritt hat ihm seine Tante geschenkt. Seinen ersten Sissi-Film hat er hier gesehen, das prägt.

Und das Erste, was im sanierten Bundesplatz-Kino bei der Wiedereröffnung im Oktober 2011 über die Leinwand flimmerte, war ein Trailer für „Berlin Ecke Bundesplatz“, erzählen die Betreiber. Karlheinz Opitz, Peter Latta und Martin Erlenmaier sind drei Filmverrückte. Und an diesem Februartag sitzen sie nur zehn Minuten Fußweg von den Filmemachern entfernt auf der anderen Seite der Bundesallee in ihrem Foyercafé und ziehen Zwischenbilanz. Herrje, ist es draußen trübe. „Immerhin erhellt das Kino den hässlichen Platz“, sagt Karlheinz Opitz. Für ihn und die beiden anderen lohnt sich ihr Wilmersdorfer Arthauskino-Abenteuer. Rechnerisch nicht immer, aber ideell.

Das Publikum sei kommunikativ und informiert, findet Martin Erlenmaier. Ganz gezielt werde nach bestimmten Filmen gefragt. Und Peter Latta, vor der Rente Mitarbeiter der Deutschen Kinemathek, hat neulich dieses ulkig vorzustellende Kompliment gehört: „Bei Ihnen kann man mit verbundenen Augen ins Kino gehen und sieht immer was Gutes.“ Actionfilme gingen am Bundesplatz allerdings nicht, lächelt Opitz, der auch die Eva-Lichtspiele in der Blissestraße betreibt. Dafür aber Berlin-Filme, Historisches, Kinderfilme und was sich die drei sonst für Sonderreihen in ihrem 87-Plätze-Haus einfallen lassen.

Zur Berlinale haben sie zusätzlich zum 35-Millimeter-Projektor teuer digitalisiert. Kann gut sein, dass „Berlin Ecke Bundesplatz“ hier auch jenseits des Festivals bald als Dauerbrenner läuft. Die Filmemacher halten neuerdings die Kinorechte und können sich das gut vorstellen, die Kinomacher sowieso. Schließlich ist die Kinofassade auch im Vorspann der Bundesplatz-Filme verewigt. „Wo gibt es das schon, dass ein Kino Filme zeigt, die die eigene Welt abbilden?“, sagt Martin Erlenmaier. Nur hier, in Berlin Ecke Bundesplatz.

9.2., 13.30, 16, 18.30, 21.30 Uhr (Bundesplatz-Kino), 10.2., ab 12 Uhr, 11.–13.2. ab 15 Uhr, Buchvorstellung: 10.2., 17 Uhr

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