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Sexualität als Spiel. Laura (Laura Benson) hat sich ihrem Körper entfremdet und sucht Menschen auf, mit denen sie Grenzüberschreitungen testen kann.

© Alamode

Berlinale-Gewinner im Kino: "Touch Me Not": Selbstbefragung oder Voyeurismus?

Adina Pintilies' Bären-Gewinner "Touch Me Not" gilt aufgrund seiner Darstellung von Sexualität als umstritten. Nun kommt er ins Kino. Ein Pro und Contra.

Von Andreas Busche

PRO: Das Publikum befragt sich selbst

Nähe und Distanz. „Wenn sich 90 Prozent von dir am liebsten verkriechen würden, machst Du während Dreharbeiten eine Menge Scheiße durch“, sagt Laura zu Adina Pintilie. Wie sich diese Blicke auf den eigenen Körper anfühlen, für die Zuschauerinnen und Zuschauer wie für die Akteure vor der Kamera, das macht die rumänische Regisseurin in „Touch Me Not“, einem komplexen Versuchsaufbau zwischen Dokumentar- und Spielfilm, Inszenierung und Improvisation, Beobachten und Beobachtetwerden, offensiv spürbar.

Pintilie konfrontiert ihr Publikum mit Körperbildern und Vorstellungen von Sexualität, die nicht unter das Prädikat „normativ“ fallen. Und sie forciert die Auseinandersetzung in einem kühlen, laborartigen Setting, sodass mit ablehnenden Reaktionen eines an die gepflegten Konventionen des Arthouse-Kinos gewöhnten Publikums zu rechnen ist. Für ihre Grenzüberschreitung erhielt Pintilie auf der Berlinale überraschend den Goldenen Bären, eine Entscheidung, die wohl auch als Statement gemeint war. Denn die Zukunft des Kinos, wie die Jury um Tom Tykwer erklärte, ist „Touch Me Not“ sicher nicht, obwohl Pintilies Film über eine ausgeklügelte inszenatorische Idee verfügt – viel zu selten im aktuellen Dokumentarkino. Es geht nicht um Transgression als Selbstzweck, sondern um Selbstbefragung. Auf und vor der Leinwand.

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„Touch Me Not“ überzeugt vor allem als Beitrag zu aktuellen Diversitätsdebatten, weil der Film landläufigen, kulturalistisch geprägten Vorstellungen von Identität ein nur selten formuliertes Körperbewusstsein jenseits von Sexus und Gender vorhält. Das Verhältnis von Nähe und Distanz hinterfragt auch Pintilies filmisches Konzept, das auf einem Interrotron basiert, einer teleprompterähnlichen Apparatur. Durch eine Spiegelkonstruktion vor dem Objektiv blicken die Interviewten direkt in die Kamera – und damit ins Publikum. Das Setting suggeriert eine Intimität, die Pintilie jedoch umgehend entlarvt, indem sie ihren Aufbau vorführt. Gelegentlich tauschen die Regisseurin und ihre Protagonistinnen auch die Rollen: Einmal interviewt Laura, dargestellt von der französischen Schauspielerin Laura Benson, die Filmemacherin.

Laura ist eine zentrale Figur in „Touch Me Not“. Sie leidet unter einem gestörten Verhältnis zum eigenen Körper. „Du sprichst über deinen Körper wie über etwas Fremdes“, sagt die Transfrau Hanna zu ihr. Hanna gehört zu den Menschen, die Laura dafür bezahlt, dass sie ihnen beim Masturbieren oder Strippen zuschaut. Bis zu ihrem 50. Lebensjahr lebte Hanna als Mann, heute verdient sie ihren Lebensunterhalt als Sexarbeiterin mit aktivistischem Ansatz: „Sexualität ist ein Spiel, man sollte sie mit Leichtigkeit nehmen.“

In Pintilies klinischem Versuchsaufbau wirkt Hanna wie ein erfrischender Einbruch von Lebenswirklichkeit. Sie hat nur zwei Szenen mit Laura, die zu den stärksten gehören, weil ihre Präsenz von jeder Beweislast entbunden ist. Hannas hedonistisches Verhältnis zu ihrem halb operierten Körper – sie klemmt ihr Glied beim Tanzen zwischen die Schenkel, ihre Brüste nennt sie „Gusti“ und „Lilo“ – kündet von einer Freiheit, die sich tatsächlich im Zeigen, Schauen und Fühlen erfüllt.

CONTRA: Das Publikum wird zum Voyeur

Am Ende wird der Interrotron wieder abmontiert. Mit wenigen Handgriffen verschwindet das Bild von Adina Pintilie, die sich zwei Stunden lang in das von ihr geschaffene Universum zugeschaltet hatte. Die Regisseurin nutzte den Kamera-Apparat als Sensibilitätsprothese, um still zu beobachten und doch dabei zu sein. Als spräche sie aus dem Jenseits direkt zu ihren Akteuren. Wie in einer Kapelle versammeln diese sich um das zugeschaltete Bild. „Ich war sicher, alles über Intimität zu wissen, über Vertrauen, Verletzungen“, sagt Pintilie. Nun sei sie eines Besseren belehrt worden.

Als ob ein offenes Ende für dieses Filmexperiment je eine Option war. Tatsächlich gibt es keine dokumentarischen Anteile, die eine „Wahrheit“ hervorbringen könnten. Alles in „Touch Me Not“ unterliegt dem Dispositiv von Inszenierung und Kamera, ist dem Design der Therapiesitzungen geschuldet.

Ein Versuchspaar bilden der Schauspieler Tómas Lemarquis und der an spinaler Muskelatrophie erkrankte Christian Beyerlein, ein Aktivist für befreite Sexualität. Tómas und Christian sind Teilnehmer eines Workshops, in dem sich Menschen mit und ohne Behinderung berühren sollen. Der Therapieraum strahlt aseptisch-weiß, ein Ort absoluter Reinheit, an dem sich Vorstellungen von „normal“ und „anders“ aufheben.

Christian erkennt: „Es ist nicht leicht, anders zu sein. Dinge sind komplexer, es gibt so viele Abschattungen.“ Es werden auch die Körperzonen erkundet, die äußerlich abschrecken. Wie Christians speichelnasses Gesicht, aus dem die Schneidezähne herausragen. „Wie war das für dich?“, wird Tómas gefragt. Das Gesicht sei ein sehr intimer Bereich, antwortet er, es sei viel für ihn gewesen. „Ich weiß das Feedback zu schätzen“, sagt Christian.

Cleaner Therapiesprech bestimmt „Touch Me Not“, wo es um Gefühle und Körperlichkeit gehen könnte. Der Film bleibt auf Distanz. Zu den Emotionen, vor allem zu den Körpern, die sich unter der gestaffelten Inszenierung der Blicke entfernen. Die Perspektive rückt auf die Position der Regisseurin, des Zuschauers, der die Figuren nun ebenfalls bei ihren Erkundungen „beobachtet“. Immer wieder ist ein Schnaufen zu hören. Wer atmet hier aus dem Off: die Regisseurin? Der fingierte Zuschauer? Ein anonymer Voyeur? Die Protagonisten beobachten sich gegenseitig, der Therapeut die Paare, Tómas stellt seiner Ex-Freundin nach wie ein Stalker. Die Therapiekleidung ist weiß, die hochgeschlossenen Kostüme sind graublau, fast farblos, die Stoffe glatt. Alles ist auf Abweisung getrimmt, und trotzdem sollen Grenzen niedergerissen werden.

„Touch Me Not“ schickt das Publikum durch ein unterkühltes, mitunter auch zähes Experiment, das letztlich dem Publikum selbst gilt. Wenn der Film qua Anschauungstherapie vorbei ist, sollen Erkenntnis und sogar körperliche Befreiung folgen. Steril und emotionslos signalisiert er jedoch in jedem Moment: Ich lass dich nicht zu nahe heran. Berühr mich nicht. Didaktisches Kino, das sich konterkariert.

In den Berliner Kinos Delphi Lux, FSK, Hackesche Höfe, Kulturbrauerei, Krokodil, Moviemento, Wolf (alle OmU)

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