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Yong Mei und Wang Jingchun in "So Long, My Son".

© Li Tienan / Dongchun Films / Berlinale

Berlinale-Favorit „So Long, My Son“: Schuld und Versöhnung im Schatten der Ein-Kind-Politik

Wang Xiaoshuais chinesisches Epos „So Long, My Son“ erzählt die Geschichte zweier Familien - und ist großer Favorit für den Goldenen Bären.

Von Gregor Dotzauer

Innere Zeit und äußere Zeit fallen fast immer auseinander. Aber nirgends lassen sie sich so wenig zur Deckung bringen wie in China. Von den Nachwehen der Kulturrevolution, die den Menschen ihr verräterisches Gift ins Herz goss, zum hochtechnologischen Glitzer der Millionenmetropolen in nur vier Jahrzehnten: Damit hält kaum ein moralisches Bewusstsein Schritt. Wie davon erzählen? Wang Xiaoshuai, neben Lou Ye und Jia Zhang-ke einer der namhaftesten Regisseure jener heterogenen „sechsten Generation“ von Filmemachern, die als Absolventen der Pekinger Filmakademie einen unheroisch alltäglichen Ton ins Kino brachten, braucht dafür genau drei Stunden.

Angesichts der Stoffmassen, die von Deng Xiaopings Vier Modernisierungen bis in die unmittelbare Gegenwart reichen, ist dies zweifellos ein weiterer Gewaltakt. Angesichts der subjektiven Zeitschichten, durch die sich seine Protagonisten bewegen, entsteht in „So Long, My Son“ aber auch ein Epos. Mit ruhigem Atem und sicherer Hand sammelt es die Partikel ein, die von dieser historischen Zentrifuge in alle Richtungen geschleudert werden.

Liu Yaojun und seine Frau Wang Liyun zum Beispiel, die es schon bald aus dem Norden in die südliche Provinz Fujian verschlägt. Er (Wang Jingchun) repariert Boote, sie (Yong Mei) flickt Netze und sorgt für den Zusammenhalt der Familie, was angesichts eines rebellischen 16-Jährigen namens Xingxing alle Kräfte fordert.

Das Private ist vom Politischen durchdrungen

Wie Wang Xiaoshuai, der auch das Drehbuch geschrieben hat, nun in Rückblenden andeutet und dann Stück um Stück offenlegt, dass dieser adoptierte Sohn den leiblichen Sohn, der in einem Stausee ertrank, bis hin zum Rufnamen ersetzen soll, ist bereits ein Drama für sich. In seiner unsentimentalen Härte verleiht es den allgegenwärtigen Motiven von Schuld und Versöhnung Kontur. Wie der Regisseur die individuellen Konflikte dieser Familie in einen zeitgeschichtlichen Kontext einwebt, der sie zugleich als Zwangsabtreibungsopfer der (inzwischen aufgegebenen) Ein-Kind-Politik ausweist und als Strandgut einer Massenentlassung in der Fabrik, in der beide beschäftigt waren, verleiht dem Geschehen eine weitere Dimension.

Und damit nicht genug. Das zerstörerische Werk von Misswirtschaft und Politik hat ein menschliches Gesicht. Eines davon gehört Li Hayan (Ai Liya). Sie ist die Mutter von Haohao, dem besten Freund des leiblichen Xingxing. Haohao wiederum ist das Patenkind von Liyun und Yaojun. Dass ausgerechnet Li Hayan als Fabrikdirektorin für Familienplanung Liyun den Abtreibungsbefehl erteilt und diese bei dem Eingriff unfruchtbar wird, treibt die Entfremdung der beiden einander lange verbundenen Familien voran. Erst Jahre später, auf dem Totenbett, wird sie um Vergebung bitten – mit einem tragikomischen Angebot, die Verhältnisse auszugleichen.

Gewissensbisse hat auch Moli (Qi Xi), die jüngere Schwester von Li Hayans Mann. Frisch geschieden, aber schwanger, befindet sie sich auf dem Weg zum Studium in die USA und bietet Yaojun ihr Kind als Ersatz an.

Wang führt die Geschicke beider Familien parallel – mit Schwerpunkt auf dem von Liyun und Yaojun. Wie kaum ein anderer seiner Generationsgenossen zeigt er, in welchem Maß alles Private vom Politischen durchdrungen ist. Lou Ye, dessen „Shadow Play“ im Panorama lief, kommt trotz epischer Ansätze über den Thriller nicht hinaus, und Jia Zhang-ke, der mit „Asche ist das reinste Weiß“ (ab Ende Februar im Kino) vielleicht sogar den bildgewaltigeren Epochenhorizont aufspannt, interessiert sich als neorealistisch geschulter Regisseur nicht so sehr für das Psychologische.

Insofern porträtiert „So Long, My Son“ (Kamera: der Koreaner Kim Hyun-soek) die Kontingenz der politischen Umstände in Verquickung mit den Zufällen des Schicksals auf einzigartige Weise – und mit großer schauspielerischer Kraft. Wang erzählt vom Unwillen, sich unter gleich welche Wechselfälle zu beugen, vom Frieden, den man mit der Vergangenheit manchmal schließen muss, und von dem, was inmitten aller Turbulenzen an Verantwortung, Zuneigung oder gar Liebe möglich ist.

Zensur oder nicht?

Wang, 1966 in Shanghai geboren, hat bei alledem selbst einen weiten, ganz und gar nicht kollisionsfreien Weg zurückgelegt. „The Days“, sein legendäres Debüt aus dem Jahr 1993 mit dem Maler Liu Xiaodong als Bohemien in der Titelrolle, steht bis heute auf der schwarzen Liste. Und mit seiner Trilogie über die Kulturrevolution, die er 2014 mit „Red Amnesia“ beendete, hat er sich immer hart am Rand des Erlaubten bewegt. Mit „So Long, My Son“ findet er eine Form, sich mit der jüngsten Geschichte auseinanderzusetzen, die von tiefer Barmherzigkeit geprägt ist. Man hat sie ihm bisher nicht angekreidet.

Allerdings weiß er genau, wie heikel die Behörden geworden sind. Erst in Berlin, sagt er, habe er erfahren, dass zwei chinesische Filme, darunter Zhang Yimous Wettbewerbsbeitrag „One Second“ über die Zeit der Kulturrevolution, „nicht zugelassen“ worden seien. Er könne aber nicht eindeutig sagen, ob es sich um Zensur handle. Als er auf der Pressekonferenz die Gesetzgebung in China und ihre Prozesse erklären will, wird er indes von seiner Produzentin unterbrochen.

Durch „So Long, My Son“ weht mit „Auld Lang Syne“ eine Melodie auf die Verse des schottischen Dichters Robert Burns, die in China landesweit als „Ewige Freundschaft“ bekannt ist. Wenn es mit rechten Dingen zugeht, wird man sie Wang Xiaoshuai für diesen bewegenden Film weder in Ost noch West ausschlagen.

15.2., 10.30 u. 16.30 Uhr (Friedrichstadtpalast), 19 Uhr (HdBF); 16.2., 17.30 Uhr (HdBF)

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