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Mit Hut und Bär: Der Berlinale-Direktor Dieter Kosslick.

© Britta Pedersen/dpa

Berlinale-Chef Dieter Kosslick tritt ab: Der Wechsel als freundliche Übergabe

Berlinale-Chef Dieter Kosslick zwischen Kanzleramt und Plausch mit Hollywoodstars. Eine Nahaufnahme – und ein erster Blick auf seine Nachfolger.

Christian Bale lässt auf sich warten, die Pressekonferenz zu „Vice“ verzögert sich. Regisseur Adam McKay, ein Hüne, hat es mit dem Rücken, deshalb wird auf dem Podium schnell die Bestuhlung ausgetauscht. Bürostühle mit hohen Lehnen gibt’s bei der Festivalleitung, also werden sie kurzerhand vom Renzo-Piano-Hochhaus zum Konferenzsaal ins Hyatt-Hotel verfrachtet. Auch im Vip-Raum steht nun einer zwischen den Lounge-Möbeln.

Der VIP-Raum ist die Komfortzone für die Filmteams, von hier aus werden sie zum Foto-Call und zur Pressekonferenz gebeten, hier macht Festivalfotograf Gerhard Kassner auch die Fotos für die Signier-Plakate im Berlinale Palast, es dauert nur zwei, drei Minuten. Bei Weltpremieren ist die Pressekonferenz die allererste Begegnung mit der Öffentlichkeit, Regisseure und Schauspieler sind da gerne mal nervös. Sie sollen es gut haben hier, auf dem Tresen steht Champagner. Und Dieter Kosslick muntert die Gäste auf.

Er selber trinkt Wasser und Kaffee, koffeinfrei – der VIP-Raum ist auch eine Art Kommandozentrale. Die kleine Verzögerung wirbelt den Ablauf durcheinander, eigentlich wollte Kosslick ins Haus der Berliner Festspiele rüber, zum Watergate-Dokumentarfilm, der ist ihm wichtig. Das macht jetzt Chefkurator Thomas Hailer; das „Vice“-Team geht vor.

Christian Bale ist auf dem Weg

Anruf Juliette Binoche. Die Jury-Präsidentin hat ein paar Fragen an Kosslick. Eben wurde bekannt, dass Zhang Yimous Wettbewerbsfilm seitens der Chinesen abgesagt ist, eine schlechte Nachricht. Die Berlinale muss Diplomatie walten lassen, Kunstfreiheitsaktionen kann sie nur dann starten, wenn sie die Filmschaffenden nicht gefährdet. Auch möchte die Jury einen Bären-Kandidaten gerne zum zweiten Mal sehen, geht das? Und Angela Merkel lädt Binoche und ihre Mitstreiter ins Kanzleramt – kurze Lagebesprechung. Die China-Frage drängt, die AfD macht Ärger, vor dem Kino International sollen Parteiangehörige verprügelt worden sein, die Polizei wird kontaktiert. Die Aussagen sind widersprüchlich. Und der Protest der Kinobetreiber gegen die Wettbewerbsteilnahme des Netflix-Films „Elisa y Marcela“ macht gerade die Runde.

Dieter Kosslick nimmt es gelassen. Krisen gehören zum Alltag des Festivalchefs – und was heißt hier Krise? Dass der Streamingdienst den Film im Herkunftsland Spanien ins Kino bringt, hat die Berlinale sich schriftlich geben lassen.

Info vom Team, Christian Bale ist auf dem Weg. Ein paar Minuten bleiben noch. Kosslick ruft seine türkische Schneiderin an, um ihr Emin Alpers türkischen Wettbewerbsbeitrag „A Tale of Three Sisters“ ans Herz zu legen. „Der läuft heute Abend, ich lasse zwei Karten für Sie hinterlegen!“

Es ist schön, gefeiert zu werden

Das Publikum ist der Star? Für das Publikum ist umgekehrt Kosslick der Star, nach 18 Festivaljahren. Vor dem Hyatt steht nicht nur die „Danke, Dieter“-Mülltonne, mit der die BSR dem scheidenden Direktor die Ehre erweist. Auf dem kurzen Fußweg zum roten Teppich bitten die Leute ihn derart häufig um Selfies und Autogramme, dass seine Assistentin wiederholt den Bodyguard spielt, um den Chef loszueisen. Es ist schön, gefeiert zu werden. Aber die typischste Kosslick-Handbewegung bleibt der ausgestreckte Fingerzeig auf die Gäste, die Stars. Ob es Agnès Varda ist, Fatih Akin oder Charlotte Rampling. Bei deren Ehrenbär-Gala lenkt Kosslick unentwegt alle Blicke auf die Schauspielerin und ruft in den Saal: „You rampled me and you rampled the Berlinale“. Die Briten haben aus dem Namen der Schauspielerin ein Verb destilliert: Ramplen bedeutet so viel wie verführen.

Auch die BSR sagt "Danke, Dieter!". Mit Mülleimern am Potsdamer Platz.
Auch die BSR sagt "Danke, Dieter!". Mit Mülleimern am Potsdamer Platz.

© Thilo Rückeis

Bis zu 20 offizielle Termine hat Kosslick pro Tag, von der Morgenlage um neun über Interviews, den Dining Club und Berlinale-Kamera-Verleihungen bis zur späten Special-Gala. Dieses Jahr kommen Ehrungen in eigener Sache hinzu. Wobei Kosslick es sich nicht nehmen lässt, bei der Preisverleihung der Bischofskonferenz auch über die von Priestern vergewaltigten Kinder zu sprechen. Laut und deutlich.

Eine Maschinerie mit über tausend Mitarbeitern

Wer nur ein paar Stunden hinter den Kulissen dabei ist, erlebt einen ansteckenden Teamgeist; die berühmte Freundlichkeit der Berlinale prägt auch den inner circle. Und man begreift einmal mehr, welches Hochpräzisionsinstrument ein Filmfestival ist, eine Maschinerie mit über tausend Mitarbeitern. Kosslicks Nachfolger, der künstlerische Leiter Carlo Chatrian und Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek, übernehmen einen funktionierenden (und ökozertifizierten) Laden. Vom Teppich-Parcours samt Blickkontakt zwischen dem Zeremonienmeister vorne bei den Limousinen und dem Team am Palast-Eingang samt extra Sponsoren-Betreuung über die pannenfreie Projektion von 400 Filmen bis zur kniffligen Finanzlage. Der abgesagte chinesische Film bedeutet auch einen deutlichen Einnahmeverlust beim Ticket-Verkauf.

Von den politischen Verwerfungen zu schweigen: Neben Chinas verschärfter Filmfreigabe ist da auch die Türkei. Wettbewerbs-Regisseur Emin Alper wurde kürzlich rechtskräftig zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, mit fünf Jahren Bewährung. Auch danach erkundigt sich Kosslick an diesem Nachmittag, im VIP-Raum vor Alpers Pressekonferenz. Und den drei großartigen Hauptdarstellerinnen von „A Tale of Three Sisters“ liegt er zu Füßen, nicht ohne zu beichten, dass er im Dining Club im ersten Moment vergaß, zu welchem Film sie gehören.

Der Wechsel gestaltet sich als freundliche Übergabe

Seine typischste Handbewegung. Noch-Festivalchef Dieter Kosslick lenkt den Blick auf Jury-Präsidentin Juliette Binoche.
Seine typischste Handbewegung. Noch-Festivalchef Dieter Kosslick lenkt den Blick auf Jury-Präsidentin Juliette Binoche.

© imago/Future Image

Ein Festival leiten ist Simultankunst. Vor Christian Bales abendlichem Auftritt auf dem roten Teppich sind die Shooting Stars dran. Zehn junge Schauspielerinnen und Schauspieler baden im Blitzlichtgewitter, Kulturstaatsministerin Monika Grütters drängelt sich dazwischen, umarmt den Chef. Für einen Moment fragt man sich, wie gut er auf sie zu sprechen ist. „Wehmut“, das Wort sagt er oft. Dem Branchenmagazin „Variety“ hatte er nochmals beteuert, ein klarer Schnitt sei gut, aber zunächst sei es ihm schwergefallen, das Aus zu akzeptieren. Schmerzfrei ist Kosslicks Gelassenheit nicht.

Zwei Stunden vorher, bei Denis Cotés kanadischem Wettbewerbsfilm, gibt es eine echte Weltpremiere am Teppich. Kosslicks Nachfolger Chatrian steht da, zum allerersten Mal. Nicht Arm in Arm mit dem Noch-Chef, sondern diskret hinter der Tür. Die offizielle Stabübergabe werden sie wohl auch bei der Bären-Gala an diesen Samstag nicht zelebrieren, denn Kosslick ist ja noch bis Ende Mai im Amt. Jetzt lässt sich der künftige Chef nur das Protokoll erläutern, hinter den Kulissen. Noch ist Chatrian einer, der zuschaut, sich schlau macht. Man muss die Dinge erst kennen, bevor man sie ändert, möglicherweise.

Hommage für den „Best Dieter Ever“

Nein, hier geht es nicht zu wie bei der Volksbühne, als Castorf-Nachfolger Chris Dercon auf verschlossene Türen stieß. Der Wechsel zur Doppelspitze gestaltet sich als freundliche Übergabe, bisher jedenfalls. Man sieht sie denn auch ständig bei der 69. Berlinale: Chatrian und Rissenbeek nehmen an der Eröffnung teil, mischen sich bei Branchentreffs und Partys unter die Gäste – beim Forums-Empfang im ehemaligen Weddinger Krematorium, dem Silent Green, taucht Chatrian um Mitternacht auf, mit geschultertem Rucksack. Die beiden lassen sich vom Technik-Personal in zahlreiche Abläufe einweihen, treffen Sektionsleiter und Regisseure.

Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek (links) mit der Kulturstaatsministerin Monika Grütters.
Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek (links) mit der Kulturstaatsministerin Monika Grütters.

© Christoph Soeder/dpa

Eine Findungsphase mit sogenanntem „Shadowing“: Noch bleiben sie im Schatten der jetzigen Truppe, äußern sich nicht über Ideen und Pläne. Rissenbeeks Vertrag beginnt im März, der von Chatrian im April. Ab Juni, nach Kosslicks letztem Amtstag, haben sie freie Fahrt. Lediglich den Termin für die Berlinale 2020 haben sie schon festgelegt: Ab 20. Februar, erstmals nicht vor, sondern nach den Oscars, weil die früher stattfinden denn je.

„Wir sprechen seit September mit allen Abteilungen“, sagt Mariette Rissenbeek. Alle seien daran interessiert, den „Neuen“ ihre Anliegen und ihr Knowhow zu kommunizieren. „Die Türen stehen offen“, bei allen sei die Bereitschaft groß, „eine gemeinsame Grundlage für die künftige Berlinale zu schaffen“. Dass die „Variety“ nicht nur eine 15-Seiten-Hommage für den „Best Dieter Ever“ druckte, sondern in der gleichen Ausgabe erste Namen von Chatrians Kuratoren-Team bekanntgab (aus seiner bisherigen Locarno-Truppe), hat alle verärgert. Den aktuellen Festivalstab genauso wie Chatrian und Rissenbeek. Die beiden hatten jede Auskunft verweigert, das Blatt beruft sich auf andere Quellen. Wobei nur das Timing unhöflich ist. Es ist üblich, dass neue Festivalchefs die Auswahlkommission austauschen, das war auch bei Kosslick so.

Offene Baustellen für die Berlinale 2020

Offene Baustellen finden sich genug. Die vielfach angemahnte Qualitätssteigerung des Wettbewerbs. Die Profilierung der Reihen. Neue Chefs oder Sous-Chefs für das Panorama, die Shorts, das Forum (wobei letzteres wohl autonom bleibt, auch bei der Leitungsfrage). Die radikalen Marktveränderungen durch die Streamingplattformen. Und das Terminproblem: Soll die Berlinale auf Dauer nach den Oscars laufen und Cannes noch näher auf den Pelz rücken oder in den Dezember wechseln, um wieder für Oscar-Anwärter attraktiv zu sein?

Fragen, die sich nicht in acht Monaten klären lassen: 2020 wird ein Interimsjahr, mit Jubiläumsprogramm zum 70. Festivalgeburtstag. Dass die Berlinale ein Publikumsfest mit vielen Programmschienen bleibt, wird sich kaum ändern: Chatrian kommt schließlich vom Publikumsfestival Locarno. Ob sie auch vegetarisch bleibt? Nebensache.

Zurück im VIP-Raum: Christian Bale ist da, er war schon oft hier zu Gast. Der Star ist konsterniert, dass der Chef abtritt. Geht in Ordnung, meint Kosslick, es gib ein Leben nach der Berlinale. Fotograf Kassner bringt das Bale-Plakat gleich persönlich in den Berlinale Palast. Ausnahmsweise. Dieses Jahr ist eben besonders.

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