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Rosalind Russell als Reporterin in „Hired Wife“ (1940).

© Berlinale

Berlinale 2022: Die neuen, alten Frauen in der Sektion Retrospektive

Mit Mae West, Rosalind Russell und Carole Lombard wird das moderne Frauenbild im klassischen Hollywood gefeiert. Drei Ausnahme-Performerinnen sind zurück auf der Leinwand.

Meine Damen, meine Herren, so etwas haben Sie noch nicht gesehen! Ein Mischwesen mit dem Körper einer Schildkröte und dem Kopf eines Mannes! Ein Zithervirtuose, der Melodien rückwärts spielen kann! Aber die allergrößte Attraktion, versichert der Ausrufer, heißt Tira. „Das Mädchen, das beweist, dass man keine Füße braucht, um eine Tänzerin zu sein!“

Sogleich wird ein Laufsteg ausgerollt, der mitten durch die gaffende Rummelplatz-Menge führt, zwei Trompeter blasen eine Fanfare und dann erscheint die lauthals angepriesene Schönheit. Natürlich hat Tira Füße, aber ihr hautenges Nichts von Kostüm betont andere Körperregionen. „Do you follow me?“, fragt sie, lasziv einherschreitend, bevor sie im Zirkuszelt verschwindet, wo gleich die Show beginnen soll. Selbstverständlich folgen ihr die Zuschauer, allesamt Männer, und reißen dem Verkäufer die Tickets aus der Hand.

Mae West hat noch einige deftige Auftritte in der Showbiz-Burleske „I’m No Angel“ (1933), die der Berlinale-Retrospektive den Titel gegeben hat. „No Angels“, das sind neben der 1893 geborenen Ausnahme-Performerin auch die eine halbe Generation jüngeren Schauspielerinnen Rosalind Russell (Jahrgang 1907) und Carole Lombard (1908).

Drei Stars, die in ihren Filmen mit den herrschenden Geschlechterverhältnissen brachen und denen es immer wieder gelang, Hollywoods sittenstrenge Selbstzensur des Production Codes zu unterlaufen.

Sie fesselt die Männer, lässt sich mit Diamanten und Pelzen überhäufen

So radikal wie Mae West war dabei keine andere. Sie konnte es sich leisten, weil sie bereits als Broadway-Autorin berühmt und für ihre Sottisen berüchtigt war, bevor sie 1932 den ersten Film drehte. „La West“ schrieb sich ihre Rollen und Dialoge selbst, machte aus ihrem Image der selbstbewussten, sexuell offensiven Verführerin eine eigene Kunstfigur.

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„I’m high I’m low / I tie a man as long as I let him go“, singt sie in „I’m No Angel“. Tira fesselt die Männer, lässt sich mit Diamanten und Pelzen überhäufen, dann dürfen sie gehen. Von der Burlesque-Tänzerin steigt sie im Zirkus zur Löwenbändigerin auf, doch in Wirklichkeit sind es ihre Verehrer, die sie dressiert. Bis sie einem von Cary Grant gespielten Millionär begegnet.

Echte Liebe, Kämpfe und Kabbeleien, dann Hochzeit. Das obligatorische Happyend einer Hollywood-Komödie. Aber wie anzüglich ihr Augenaufschlag ist, wenn West einem Bewunderer den Spazierstock zurückgibt – und wie eindeutig zweideutig sie vor Gericht einem Geschworenen „schöne Krawatte“ zuruft.

Der Retrospektive-Leiter Rainer Rother hat 27 Filme aus den Jahren 1932 bis 1943 zusammengestellt, der Goldenen Ära der Screwball-Comedy. Rasend schnell sprechen und artistisch agieren musste man können, um mit dem Tempo der Gags mitzuhalten. Rosalind Russell war eine Königin in dieser Kunst. Im Klassiker „His Girl Friday“ (1940) spielt sie eine Ex-Reporterin, die sich von ihrem Ex-Mann und Ex-Chef Cary Grant zu einer letzten Story überreden lässt.

Slapstick als Hochleistungssport

Ein zu Unrecht zum Tod Verurteilter muss gerettet werden, Während die männlichen Kollegen kartenspielend auf die Hinrichtung warten, recherchiert Russell im Presseraum des Gerichts souverän an bis zu drei Telefonen gleichzeitig. Einem Zeugen hetzt sie auf der Straße hinterher und bringt ihn per Hechtsprung zu Fall. Slapstick als Hochleistungssport.

Carole Lombard wirkte weniger bodenständig, trat glamouröser auf. Aber ihre Großstadtkomödien zeigen oft die brutale Realität der Jahre nach der Großen Depression. Als verzogenes Rich Kid gabelt sie im Eröffnungsfilm „My Man Godfrey“ (1936) einen Obdachlosen in einer New Yorker Müllkippen-Siedlung auf und macht ihn zu ihrem Butler.

Lässt ihn ihre Eskapaden ausbügeln, wenn sie nach einer Champagnernacht ein Pferd in der elterlichen Bibliothek abstellt. Zähmung einer Widerspenstigen? Hier ist es die Frau, die sich durchsetzt. Lombard starb bei einem Flugzeugabsturz, bevor ihr letzter Film, Lubitschs Anti-Nazi-Komödie „To Be or Not to Be“ (1942) in die Kinos kam.

Nach dem Kriegseintritt der USA wurden die Zeiten patriotisch, alte Rollenmuster kehrten zurück. „No Angels“ waren nicht mehr gefragt. Christian Schröder

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