zum Hauptinhalt
Berlin als Mythos. Christian Petzold zeigt „Undine“.

© Hans Fromm/Schramm Film

Berlinale 2020: Die Wettbewerbsfilme im Überblick

Um die Bären konkurrieren 18 Filme. Drei davon spielen in Berlin. Andere führen in den amerikanischen Westen - und in die Killing Fields der roten Khmer.

Der Wettbewerb ist das Herzstück der Berlinale. 18 Filme konkurrieren um den Goldenen Bären. Drei davon spielen in Berlin, andere in den Vorstädten von Paris und Rom, wieder andere begeben sich an Traumorte oder blicken zurück in die Vergangenheit. Es werden Einwandergeschichten erzählt und schwierige Vater-Tochter-Beziehungen ausgeleuchtet. Vom Genrekino bis zum genresprengenden Indie-Kino ist für jeden Geschmack etwas dabei. Damit Sie bestens vorbereitet sind, stellen wir die Filme und ihre Geschichten hier vor.

Undine

Christian Petzold ist ein Stammgast im Wettbewerb. Alle seine Filme suchen eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart, aber so weit hat er sich noch nie in die klassische Mythenwelt vorgewagt. Basierend auf dem Undine-Stoff, frei nach Ingeborg Bachmann, sucht Paula Beer in einem Berlin nach Liebe, in dem jede Mythologie immer schon eine Kulisse ist. Durch diese bewegen sich Petzolds Figuren wie luzide Geister. Deutschland/Frankreich 2020, 90 Min., R: Christian Petzold, D: Paula Beer, Franz Rogowski, Maryam Zaree

Berlin Alexanderplatz

Die Geschichte des „anständigen“ Franz Biberkopf verlegt Burhan Qurbani in seinem dritten FIlm (und dem zweiten im Wettbewerb) ins Berlin der Gegenwart. Franz heißt jetzt Francis und ist ein Geflüchteter aus Ghana, der im kalten Deutschland eine neue Heimat sucht, doch an den Falschen gerät. Ein Fiebertraum zwischen Nachtleben, Clubs, Hasenheide und Asylwohnheim. Kein Leben ist illegal, aber nicht alle Wege führen auf den rechten Pfad. Deutschland/Niederlande 183 Min., R: Burhan Qurbani, D: Welket Bungué, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król

Schwesterlein

Ein Geschwisterdrama im Milieu der Berliner Theaterszene, mit einem herausragenden Ensemble um Nina Hoss und Lars Eidinger. Für ihren kranken Zwillingsbruder Sven zieht die ehemalige Schauspielerin Lisa aus der Schweiz zurück nach Berlin. Zwischen seiner Krebsbehandlung und ihrer Karriereplanung behandeln die Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond Fragen nach der Verantwortung für das eigene Leben und das der Geschwister. Denn das Leben folgt keinem Drehbuch. Schweiz 2020, 99 Min., R: Stéphanie Chuat, Véronique Reymond, D: Nina Hoss, Lars Eidinger, Marthe Keller

Siberia

Und noch eine Rückkehr. Zuletzt war der Italo-Amerikaner Abel Ferrara 1995 mit dem Vampirfilm „The Addiction“ im Wettbewerb vertreten. Nach dem autobiografischen „Tommaso“ stürzen sich der Regisseur und sein Star Willem Dafoe nun in die archetypischen Visionen seines Protagonisten. Ohne strukturierte Handlung begibt sich ihr Film auf eine Reise ins Unbekannte. Ferrara hat sich schon länger vom Erzählkino abgewandt, aber so konsequent verwischte er den Übergang von Kino und Traum noch nie. Italien/Deutschland/Mexiko 2020, 92 Min., R: Abel Ferrara, D: Willem Dafoe, Dounia Sichov

All The Dead Ones

In eleganten Bildern erzählt „All The Dead Ones“ von der brasilianischen Kolonialgeschichte. Und dass die Zukunft Brasiliens eigentlich den Frauen gehört.
In eleganten Bildern erzählt „All The Dead Ones“ von der brasilianischen Kolonialgeschichte. Und dass die Zukunft Brasiliens eigentlich den Frauen gehört.

© Helene Louvart/Dezenove Som e Imagens

Brasilien hat sich mit seiner eigenen Kolonialgeschichte bisher kaum auseinandergesetzt. Das Kino macht es vor. Die drei Frauen einer Plantagen- Dynastie müssen sich nach dem Konkurs in der bürgerlichen Welt zurechtfinden. Das gleich Schicksal trifft die ehemaligen Sklaven der Familie, ihnen allen ist die freie Gesellschaft fremd. In eleganten Bildern erzählt der Film, dass die Zukunft Brasiliens eigentlich den Frauen gehört. Brasilien/Frankreich 2020, 120 Min., R: Caetano Gotardo, Marco Dutra, D: Mawusi Tulani, Clarissa Kiste

DAU. Natasha

700 Stunden Filmmaterial sollen für Ilya Khrzhanovskiys Kunstprojekt DAU entstanden sein. Mit „Dau.Natasha“ ist erstmals eine der Arbeiten in Berlin zu sehen, wo die Realisierung einer „Dau“-Großinstallation 2018 scheiterte. Im Mittelpunkt des Films stehen zwei Frauen, die in einem geheimen sowjetischen Forschungsinstituts arbeiten. Ein brutaler Blick in das Herz eines totalitären Systems, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Fiktion und Realität. Deutschland/Ukraine/UK/Russland 2020, 145 Min., R: Ilya Khrzhanovskiy, Jekaterina Oertel, D: Natalia Berezhnaya, Olga Shkabarnya, Vladimir Azhippo

The Roads Not Taken

Der demenzkranke Leo, gespielt von Javier Bardem, kommt ohne die Hilfe seiner Tochter (Ella Fanning) nicht mehr zurecht. Die junge Frau widmet ihr ganzes Leben dem Vater, der sich langsam aus seinem eigenen Leben wie eine verblasste Erinnerung verabschiedet. Die britische Regisseurin Sally Potter, zuletzt 2018 mit „The Party“ auf der Berlinale, ist bekannt für ihren feministischen Blick. Ihr neuer Film handelt vom Verhältnis einer Tochter zu ihrem Vater, dessen Selbstbild in Fragmente zerfällt. UK 2020, 88 Min., R: Sally Potter, D: Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek, Laura Linney

Bad Tales

Der zweite abendfüllende Spielfilm der Brüder Damiano und Fabio D’Innocenzo spielt wie ihr Debüt „Boys Cry“ (2018 im Panorama) in der Vorstadt Roms. Er führt die Zuschauer mitten hinein in die Perspektivlosigkeit am Rande der italienischen Gesellschaft. Die brütende Hitze verstärkt die familiären Spannungen, die sich auf die Kinder übertragen und langsam in Frustration und Gewalt umschlagen. Ein niederschmetterndes Sozialporträt zwischen Sarkasmus und märchenhafter Poesie. Italien/Schweiz 2020, 98 Min., R: Fabio und Damiano, D’Innocenzo, D: Elio Germano, Barbara Chichiarelli

Days

Mit „Rizi“ (Days) kehrt Tsai Ming-Liang erstmals seit 2006 auf die Berlinale zurück. Er erzählt von der Annäherung zweier Männer in einer einzigen gemeinsamen Nacht in einem Hotelzimmer.
Mit „Rizi“ (Days) kehrt Tsai Ming-Liang erstmals seit 2006 auf die Berlinale zurück. Er erzählt von der Annäherung zweier Männer in einer einzigen gemeinsamen Nacht in einem Hotelzimmer.

© Homegreen Films

Sprachlose Einsamkeit ist das unterschwellige Thema im Kino des taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-Liang, am schönsten verkörpert in den weichen Gesichtszügen seines Stammdarstellers Lee Kang-Sheng, mit dem Tsai über die Jahre ein kleines Gesamtkunstwerk geschaffen hat. Mit „Rizi“ (Days) kehrt Tsai Ming-Liang erstmals seit 2006 auf die Berlinale zurück. Er erzählt von der Annäherung zweier Männer in einer einzigen gemeinsamen Nacht in einem Hotelzimmer. Eine Flucht, vielleicht aber auch eine Ankunft. Taiwan 2019, 127 Min., R: Tsai Ming-Liang, D: Lee Kang-Sheng, Anong Houngheuangsye

Delete History

Das neue Werk des französischen Regie-Duos Benoît Delépine und Gustave Kervern ist eine Sozialkomödie, die mit dem Gedanken spielt, dass die Franzosen auf dem Land und in den Städten vielleicht doch sehr ähnliche Probleme mit der sich verändernden Welt haben. Drei individuelle Geschichten verzahnen sich zu einer Parabel über das Verhältnis von Mensch und sozialen Medien. Wie schon in „Mammut“ mit Gerard Depardieu finden Delépine und Kervern das Absurde in der menschlichen Tragödie. Frankreich 2019, 110 Min., R: Benoît Delépine, Gustave Kervern, D: Blanche Gardin, Denis Podalydès

First Cow

US-Regisseurin Kelly Reichardt kehrt mit „First Cow“ in den Nordwesten zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. Ein Anti-Western über einen Koch und einfache Menschen am Rande der Zivilisation.
US-Regisseurin Kelly Reichardt kehrt mit „First Cow“ in den Nordwesten zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. Ein Anti-Western über einen Koch und einfache Menschen am Rande der Zivilisation.

© Allyson Riggs

US-Regisseurin Kelly Reichardt hat bereits 2010 mit „Meek’s Cutoff“ eine meisterliche Reflexion über den amerikanischen Gründermythos und die Pioniere in Oregon vorgelegt. Mit ihrem Stammautor Jonathan Raymond, auch Autor der Romanvorlage, kehrt sie noch einmal in den Nordwesten zu Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. Reichardts Anti-Western dreht sich um einen Koch, um einfache Menschen am Rande der Zivilisation. Und nicht darum, was sie trennt, sondern was sie verbindet. USA 2019, 122 Min., R: Kelly Reichardt, D: John Magaro, Orion Lee, Toby Jones, Scott Shepherde

Hidden Away

Der italienische Künstler Antonio Ligabue starb 1965 vereinsamt im Armenhaus. In seiner Heimat blieb der körperlich und geistig eingeschränkte Maler die meiste Zeit seines Lebens unverstanden. Regisseur Giorgio Ditti hat Ligabue eine Filmbiografie gewidmet, die seine Jugend in tiefer Armut und den späteren Aufstieg des Eigenbrötlers in poetischen Bildern nachzeichnet. In der Dunkelheit fand Ligabue Inspiration. Ein ungewöhnlicher Künstlerfilm, der das Biografische meidet. Italien 2019, 118 Min., R: Giorgio Diritti, D: Elio Germano, Pietro Traldi

Intruder

Ein Horrorfilm der Töne und Geräusche. Die argentinische Regisseurin Natalia Meta beweist in ihrem zweiten Film, dass sie das Spiel mit dem Medium virtuos beherrscht. Die Synchronsprecherin Inés wird von Schlaflosigkeit und Albträumen geplagt, die langsam in ihren Alltag einsickern. Die junge Frau beginnt den Bezug zur Realität zu verlieren. Töne, deren Ursprung sie nicht verorten kann, scheinen von ihr Besitz zu ergreifen. Die Grenzen von Körper und Bewusstsein verschwimmen. Genrekino im Wettbewerb. Argentinien/Mexiko 2020, 90 Min., R: Natalia Meta, D: Érica Rivas, Nahuel Pérez Biscayart, Daniel Hendler

Irradiated

Ein weiteres Kapitel in Rithy Panhs eindrucksvoller Chronik über das Regime der Roten Khmer. Das Werk des kambodschanischen Filmemachers ist ein in der Kinogeschichte einzigartiges Dokument über Trauma, Erinnerung und Verarbeitung. Wieder müssen sich die Menschen zum Ursprung ihrer Schmerzen vorarbeiten. Es geht um das Schuldgefühl der Überlebenden und um Verletzungen, die über Generationen Spuren in der Seele hinterlassen. Frankreich/Kambodscha 2020, 88 Min., R: Rithy Panh, D: Bion, André Wilms, Rebecca Marder

Never Rarely Sometimes Always

Der zweite Spielfilm im Wettbewerb über das ländliche Amerika, dieses Mal in der Gegenwart. Die 17-jährige Autumn lebt mit ihren Eltern ein aussichtsloses Leben in Pennsylvania, sie hat sich in der Schule isoliert. Als sie schwanger wird, zwingen die strengen Abtreibungsgesetze sie zu einem heimlichen Trip nach New York. Ihre Cousine begleitet sie. Für die Mädchen ein Kulturschock, aber aus der Hoffnungslosigkeit erwächst unter Hittmans sensibler Regie eine emotionale Coming-of-Age-Geschichte. USA 2020, 101 Min., R: Eliza Hittman, D: Sidney Flanigan, Talia Ryder, Théodore Pellerin, Ryan Eggold

There Is No Evil

Wie sein Kollege Jafar Panahi wurde auch der Iraner Mohammad Rasoulof zu sechs Jahren Haft verurteilt, kam aber nicht ins Gefängnis. Auch er dreht unter erschwerten Bedingungen. Seine Filme machen aus der Einschränkung eine Stärke: Sie sind radikal im Gestus und klaustrophobisch in ihrem Weltbild. Ein Gesellschaftsbild, in das sogar etwas Licht fällt. Die vier Protagonisten kämpfen gegen das Regime, Rasoulofs Filme rücken keinen Millimeter von dieser Linie ab. Deutschland/Iran 2020 150 Min., R: Mohammad Rasoulof, D: unbekannt

The Salt of Tears

Der Grenzgänger der französischen Nouvelle Vague debütiert mit einem Schwarz-Weiß-Liebesfilm im Wettbewerb. Garrels charakteristische Plansequenzen sind immer auch Menschenstudien, seine Filme haben über all die Jahre nie ihre experimentelle Neugier verloren. Ein romantischer Junge verliebt sich in ein Mädchen aus der Banlieue, dann in noch eins und gleich das nächste. Ein melancholischer Paris-Film, der die Unersättlichkeit der Gefühle in ihrer ganzen Grausamkeit spürbar macht. Frankreich/Schweiz 2019, 101 Min., R: Philippe Garrel, D: Logann Antuofermo, Oulaya Amamra, André Wilms

The Woman Who Ran

Das Kino des koreanischen Arthouse-Lieblings Hong Sangsoo besteht im Grunde nur aus Vignetten. Wiederholungen und Variationen zeichnen seinen feinen, unverwechselbaren Stil aus. Damit ist er einzigartig im gegenwärtigen Weltkino. Auch in seinem 24. Film spielt Kim Minhee, die 2017 den Silbernen Bären gewann, wieder die Hauptrolle. Drei Begegnungen geben dem Film seine lose Struktur, die ein Geheimnis verbirgt. Hongs Filme sind auch kleine Bilderrätsel. Südkorea 2019, 77 Min., R:Hong Sangsoo, D: Kim Minhee, Seo Younghwa

Und wer gewinnt den Goldenen Bären? Das erfahren wir am Sonnabend, den 29. Februar, bei der Verleihung im Berlinale Palast statt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false