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 Pferdekopf mit übergroßen Augen aus Agnieszka Polskas Video „The Demon’s Brain“.

© Getty Images/iStockphoto

Berlin Art Week: Großer Bahnhof für den Schimmelreiter

Agnieszka Polska erhält den Preis der Nationalgalerie. Die polnische Videokünstlerin beschwört mit ihren Arbeiten Dämonen und stellt bohrende Fragen.

Langsam tastet sich die Kamera durch den Stollen. Das Flackerlicht der Funzel reicht nur wenige Meter. Grubenholz rechts und links, als ob es tausend Stämme gäbe. Und dahinter keine Welt, kein Ausgang, kein Ziel, keine Zukunft? Den Tunnelblick, den Agnieszka Polska hier inszeniert, überträgt man zwangsläufig auf die politische Situation – nicht allein Polens, wo die Künstlerin 1985 geboren wurde. Es ist eine Zeit, in der es an vernünftigen Visionen mangelt, aber nicht an schlechten Ideen wie Brexit, Handelskrieg oder Nationalismus.

Nun beschränkt sich die Videoinstallation „The Demon’s Brain“, Polskas bislang umfangreichste Arbeit, keineswegs auf klaustrophobische Untertage-Sequenzen, durch die Fata Morganas taumeln: eine blaue Blume, ein niedlicher Pferdekopf mit großen Kinderaugen. Vier große Videowände sind in der großen Halle des Hamburger Bahnhofs verteilt. Das Gezeigte wechselt beständig zwischen Humor und Bedrohlichkeit. Das Publikum darf sich auf weißen Schaumstoffmatratzen niederlassen, wobei das Arrangement ungemütliche Assoziationen mit C. D. Friedrichs katastrophischem „Eismeer“-Gemälde weckt.

Agnieszka Polska lockt mit Kindchenschema

Videografische Wechselbäder. Polska lockt mit Kindchenschema und Disney-Dramaturgie, um bohrende Fragen zu stellen. In der Ausstellung der Nominierten (zufällig vier Frauen, die in einem offenen Brief Sexismus und Selbstgerechtigkeit im Kunstbetrieb anprangerten) ließ Polska die Sonne als Emoji über eine kopflose Menschheit diskutieren.

Statt sich sklavisch an wissenschaftliche oder historische Tatsachen zu halten, reichert die Künstlerin auch in der neuen Videoinstallation „The Demon’s Brain“ das Faktische mit Absurditäten an. Das hat bei ihr Tradition. In ihrem Videofilm „My Little Planet“ von 2016 versetzte sie einen Aschenbecher voll qualmender Zigaretten an den Sternenhimmel und behauptete, das Zeitgefühl der Menschheit würde durch die Umlaufbahn dieses, nun ja, Himmelskörpers gesteuert.

In ihrer Installation geht es nur vordergründig um den Salzabbau in Polen

Den faktischen Kern ihrer aktuellen Mehrkanal-Videoinstallation im Hamburger Bahnhof bildet der Salzabbau in Polen, der in früheren Jahrhunderten eine bedeutende Einnahmequelle war. Historisch korrekt sind auch die Briefe aus dem 15. Jahrhundert, die an einer Ausstellungswand zitiert werden. Es sind Mitteilungen an den vom König zum Verwalter bestellten Mikolaj Serafin, der die Salzbergwerke zwischen 1434 und 1459 als frühkapitalistisches Unternehmen führte. Die Briefe dokumentieren nicht nur das vom Bergbau beförderte Wirtschaftswachstum, sondern auch die Negativfolgen für Bevölkerung und Umwelt. Daran knüpft Polska aktuell brisante Themen wie Rohstoffknappheit, Ökokatastrophen, Datenökonomie und Künstliche Intelligenz. Speziell der titelgebende „Dämon“ der Story ist doppelt codiert, er ist zugleich Geist und Computerprogramm, wie die Figur selbst einmal selbst erklärt: „Man nennt mich einen ,Demon‘, da ich als Hintergrundprozess ablaufe und nicht vom Nutzer gesteuert werde. Ich beeinflusse die natürliche Ordnung der Dinge ohne besondere Zuneigung zum Guten oder zum Bösen.“ Jeder Nutzer kennt die sogenannten „Mailer-Demons“, jene E-Mail-Retouren, die Absender auf fehlerhafte Adressen hinweisen.

Der reitende Bote wird sein Ziel nie erreichen

Hauptfigur ist aber der berittene Bote, der sich mit einem Packen versiegelter Briefe zum Bergwerkbesitzer aufmacht – und nie dort ankommt. Sein Pferd stirbt. Im nächtlichen Wald trifft der junge Kurier auf jenen Dämon, der ihm rät, die Briefe ins Feuer zu werfen. Argument der aus zwei Riesenaugen und einem Mund bestehenden Erscheinung: „Es ist noch nicht zu spät.“ Und: „Du bist derjenige, der die Zukunft ändern kann.“ Polska fragt hier nach den Handlungsspielräumen des Individuums – auch wenn die Briefverbrennung wohl die falsche Maßnahme ist. Wie informieren wir uns überhaupt über die Optionen, die uns zu verantwortlichem Handeln zur Verfügung stehen?

Eine wichtige Rolle kommt der Textwand zu, die zu den historischen Briefen an Serafin moderne Kommentare stellt, in denen Experten über die im „Demon’s Brain“ anklingenden ökonomischen, ökologischen und technologischen Probleme reflektieren. Der aufklärerische Impetus der Installation hätte in einer trockenen Angelegenheit resultieren können, wenn Polskas visuelle Erfindungskraft und ihre poetische Sprache nicht wären. An „The Demon’s Brain“ fasziniert das ausgeklügelte Soundkonzept aus gesprochenem Wort, Geräusch und Musik, das durch den Bahnhof hallt. Der Echoraum des „dämonischen Hirns“ beruht auf miteinander synchronisierten Soundspuren. Die neunte Gewinnerin des Preises der Nationalgalerie überlässt nichts dem Zufall. Die Jury hatte angesichts vier starker Positionen – neben Polska waren Sol Calero, Iman Issa und Jumana Manna nominiert – keine leichte Wahl, doch die Soloschau gibt dem Gremium recht.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50–51, bis 3. 3.; Di–Fr 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa/So 11–18 Uhr. Eröffnung am 26. 9., 20 Uhr

Jens Hinrichsen

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