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Untergang und Hoffnung. Menschen stehen im zerbombten Berlin Schlange, der Schwarzmarkt blüht.

© dpa

Berlin 1945: Unfroh in Frohnau

Neuentdeckt: Die Kolumne "Fundstücke" begibt sich auf die Spuren des Berliner Schriftstellers Karl Friedrich Borée. Sein Meisterwerk „Frühling 45“ porträtiert die Hauptstadt nach Kriegsende.

Von Caroline Fetscher

Auch für den Tagesspiegel hat er gearbeitet, der Anwalt, Essayist und Schriftsteller Karl Friedrich Borée. Nach 1946 verfasste er Kolumnen und Theaterkritiken. Vor allem aber war er ein unsentimentaler Chronist seiner Zeit. Dass er jetzt wieder gelesen werden kann, verdankt sich der Neuauflage seines Meisterwerks „Frühling 45“.

Das Buch erlaubt einen Sprung ins Damals, wie ihn derart lebendig, mit nüchterner Lakonie und reservierter Empathie, wohl nur eine solche Melange aus Roman, Journal und Bericht vermitteln kann. Borée, geboren 1886 als Karl Friedrich Boeters in Görlitz, gestorben 1964, literarisiert in „Frühling 45“ die Erfahrungen seiner Familie in Berlin während der labyrinthischen Monate, in denen der Zweite Weltkrieg endete. Ausgebombt und nahezu mittellos siedelt Familie Stein, Mutter, Vater und die gerade volljährige Tochter, aus der östlichen Innenstadt in ein Villenviertel in Berlin-Frohnau um. Dort, wo NS-belastete Besitzer ihr Haus verlassen haben, kopfüber flüchtend vor der nahenden Sowjetarmee, sammelt sich eine improvisierte Wohngemeinschaft, der auch die frühere Haushälterin angehört, die aus den Beständen ihrer getürmten Herrschaft Tauschware hortet, Zigarren, Sektflaschen, Eingewecktes.

1948 fand sich kein Verlag für das Werk

Von Tag zu Tag, Nacht zu Nacht, ändern sich die Lebensumstände. Ob es Strom, Gas, Wasser gibt, ob Bomben fallen, ob sowjetische Soldaten an die Türen pochen, auf der Suche nach Mädchen und Frauen, nach Uhren und Schnaps, das kann von einer Stunde auf die andere die kleine Notgemeinschaft erschüttern, spalten oder neu zusammenschweißen.

Borée schreibt Alltagsgeschichte ohne Alltag, Weltgeschichte aus einem Winkel heraus, bewusst reflektierend – es geht um Schuld, Ambivalenzen, Loyalitäten – und ohne die Wehleidigkeit der Trümmerliteratur. „Wir alle hafteten“, stellt Borée mit seinem Protagonisten und Icherzähler Stein fest. Jeder, der dageblieben war und während des Regimes stillgehalten hatte, wie der Autor selber, war auf seine Weise mitschuldig.

1948 fand sich kein Verlag, der derart Ungeschöntes drucken wollte. Erst 1954 kam das Buch heraus, von der Kritikerin der „Zeit“ wegen seiner „mittelmäßigen, ergebnislosen Dialektik der Moral“ verärgert verworfen und vom Publikum wenig beachtet. Es ist gerade diese „Dialektik der Moral“, die das Buch stark macht, groß sogar. Denn der Chronist verschont keinen. Der trotzige Optimismus seines Alter Egos Stein kollidiert in freundschaftlichen Disputen mit der Verbitterung eines kulturpessimistischen Geisteswissenschaftlers, der ab und zu in der Villa auf ein Glas vorbeikommt.

Man hofft auf die Russen, die Engländer und Amerikaner

Borée selber war weder NS-Anhänger noch Antisemit, sondern Sozialdemokrat. Sein Alter Ego hadert dennoch in verblüffender Direktheit mit sich und anderen, die zu wenig, zu spät, zu zaghaft eingegriffen haben, als der Terror begann. Borée schont keinen, während er die „euphorische Untergangsstimmung“ mit Details auskleidet, mit Szenen, Gesten, Dialogen. Als sei „Frühling 45“ so etwas wie eine Fortsetzung von Falladas „Jeder stirbt für sich allein“, schildert das Buch, was die Zeitgenossen taten, was sie unterließen, hofften und fürchteten.

In Berlin sind Anfang 1945 russische Sprachführer und Wörterbücher ausverkauft, man stellt sich auf die Besatzung ein, auch Stein paukt Vokabeln. Wer Nazi-Uniformen, Pelze und Schmuck getragen hatte, tarnt sich auf der Straße als Prolet. Aus Angst vor Vergewaltigung hüllen Frauen sich ein und tragen Kopftücher. „Jeder greift nur nach den umherschwimmenden Planken.“ Viele hoffen, dass „die Russen“ bald für „Ordnung“ sorgen, lieber noch die Engländer, die Amerikaner.

Im NS-Regime, das eines seiner Bücher verboten hatte, hatte Borée sich mühsam durchgebracht, offenbar ohne sich zu kompromittieren. 1960 schrieb er in „Semiten und Antisemiten“ über seine Erinnerungen an jüdische Freunde und Bekannte, an die Ermordeten und die Überlebenden. Es ist ein Geschenk, Borée jetzt dank des Engagements von Axel von Ernst, dem Verleger des Lilienfeld Verlags, entdecken zu können.

Karl Friedrich Borée: Frühling 45. Chronik einer Berliner Familie. Roman. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017. 451 Seiten, 24,90 €.

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