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Hüllenlos in Israel, das geht meist nur in Kunstaktionen, wie sie Fotograf Spencer Tunick am Toten Meer inszenierte.

© picture alliance / dpa

Berghain, Sauna und arabische Taxifahrer: Wie eine junge Israelin in Berlin ihre kulturellen Grenzen testet

Für viele Israelis ist die deutsche Hauptstadt ein Sehnsuchtsort. An die Freizügigkeit muss man sich aber erst gewöhnen. Ein Selbstversuch.

Es hat nur ein Wochenende in Berlin gedauert, um mich zu fühlen, als käme ich vom Dorf. Und plötzlich erscheint mir Tel Aviv nicht mehr sonderlich liberal. Das Erste, was mir ins Auge fällt, ist das Plakat von Heidi Klum für eine TV-Drag-Show. Ihre Beine sind entblößt, sie beugt sich nach vorne und ich sehe nur einen Hintern. In Israel sind solche Anzeigen in ultra-orthodoxen Gegenden völlig zensiert.

Aber auch in Tel Aviv wird man eine solch exponierte Werbung nicht sehen. Dann kommt die Straßenbahn. Darauf Shir Elimeleh, ein schönes israelisches Model im Badeanzug, mit der Bildunterschrift: „Tel Aviv, Jerusalem – zwei sonnige Städte. Eine Pause“.

Eine solche Werbung wäre in Jerusalem sofort ruiniert, bestenfalls durch Graffiti, schlimmstenfalls durch Verbrennung. Als Israelis haben wir uns an die Ultra-Orthodoxen angepasst. Ich schätze, man muss manchmal weggehen, um sein Zuhause auf andere Art und Weise zu betrachten.

Eines Morgens verlasse ich meine Wohnung in Kreuzberg und entdecke ein cooles Fotostudio auf der anderen Straßenseite. Ich öffne die Tür und sehe etwa 40 Männer ohne Hemd, die schwarze Geschirre tragen. Sofort schließe ich die Tür wieder.

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Ich dachte immer, ich wäre sexuell aufgeschlossen, merke aber schnell, wie viel Scham sich in meinem Körper verbirgt. Meine Reaktion kommt mir beinahe frömmelnd vor, obwohl ich nicht religiös bin.

In Israel ist es nicht akzeptabel, nackt am Strand oder vor der Familie zu sein. In der Praxis bin ich ausschließlich in zwei Situationen nackt: unter der Dusche und beim Sex. In Israel ist ein Körper immer noch etwas, das versteckt werden muss, als ob seine Zurschaustellung eine Einladung oder eine Botschaft darstellt.

In Israel ist es exotisch, nackt in die Sauna zu gehen

Wenn man Israelis erzählt, dass man in Deutschland absolut nackt in die Sauna geht, klingt das exotisch, etwas am Rande des Wahnsinns. Israel hat getrennte Strände für Männer und Frauen, LGBT-Strände, Hundestrände, aber FKK-Strände? Kaum einen.

Jeder, der dort hingeht, könnte als Perverser wahrgenommen werden. Ich bin aber nach Berlin gekommen, um mich mit der deutschen Kultur vertraut zu machen. Also fange ich mit dem Liquidrom an.

Ich finde mich nackt in einem kleinen Becken wieder, eine 30-jährige Frau und vier nackte Männer – einer von ihnen mit den rötesten Schamhaaren, die ich je gesehen habe. Das erste Gefühl ist Peinlichkeit, das zweite ist Verwirrung. Ich darf nicht hinsehen, oder? Was wird passieren, wenn ich aufstehe? Werden sie mich alle anstarren? Es ist fast beleidigend – keiner von ihnen hat auch nur einmal hingesehen.

Mir wird klar: Unter unserer Kleidung sind viele Körpertypen. Leute mit Bäuchen, Leute mit Narben. Sie sehen alle toll aus und es ist okay, dass ich nicht Heidi Klum bin. Freunde aus Berlin erklären mir später, dass sie in ihrer Kindheit mit ihren Familien nackt an Seen lagen.

Ermöglicht so etwas einen sichereren Umgang, wenn man in der Kindheit einen nackten Körper sieht, ohne zu denken, dass man ihn anfassen muss? Wenn Kinder lernen, dass ihr Körper ihnen gehört, und dass sie ihn sogar genießen können?

Eine Frau auf Körperbefreiungsreise in Berlin

Israelis sind immer stolz darauf, dass, wenn dir in unserem Land, mitten auf der Straße, etwas passiert, jeder sofort versucht zu helfen, während im Ausland, selbst wenn du mitten auf der Straße sterben würdest, niemand es überhaupt bemerken würde. Berlin ist wahrscheinlich der einzige Ort auf der Welt, an dem man allein in der Sauna oder im Club sterben kann. Hier fühlt man sich weder gestört noch als Untersuchungsobjekt.

Ich bin jetzt eine Frau auf Körperbefreiungsreise. Ich bin verliebt. Ein paar Tage später gehe ich ins Stadtbad Neukölln. In einer der Saunas sitzt ein Typ. Ich breite mein Handtuch aus. Jemand klopft an die Tür, stellt eine Frage und ich sage selbstbewusst: „Ja, alles gut.“

Der Typ fragt mich auf Englisch, was der Deutsche wolle, und ich antworte, dass ich keine Ahnung habe, weil ich kein Deutsch spreche. Darf ich ihn fragen, wie es für ihn ist, nackt in der Sauna zu sein? Ich bin schließlich Journalistin. Ich traue mich. „Fühlen Sie sich wohl, wenn Sie nackt in der Sauna sind?“ – „Klar, und Sie?“, fragt er zurück. „Ja, es ist schön, es ist mir nicht peinlich.“ – „Und, wo kommen Sie?“ Ich antworte: „Aus Tel Aviv.“

Berliner Clubs klingen für Touristen wie Sodom und Gomorrha

Einen Moment ist es still, dann lacht er und sagt auf Hebräisch: „Sehr schön! Ich heiße Yossi. Ich bin vor Kurzem hierhergezogen, um mein Glück als Musiker zu versuchen.“ In diesem Moment kommt die ganze Peinlichkeit zurück. Nachdem ich meinen Hintern, der in letzter Zeit etwas dick geworden ist, schon beinahe gemocht habe, hoffe ich nun nur noch, dass ich verbrenne. „Ich hätte es wissen müssen“, lächelt er und deckt ab, was abgedeckt werden muss. „Nur Israelis wagen es, mit einem Unbekannten in der Sauna zu sprechen.“

Auch Beschreibungen aus Berliner Clubs werden sich für israelische Touristen heftig anhören. Fast wie Sodom und Gomorrha. Wenn man sich für den KitKat-Club oder eine Sex-Party entscheidet, sollte man darauf vorbereitet sein. Ich finde es jedoch interessanter, wie eine Clubumgebung aussieht, wenn sie nicht um Sex herum arrangiert ist.

Vordergründig scheint die größte Frage im Berghain, was man tragen sollte, um am Türsteher vorbeizukommen. In der Praxis ist die Frage, was man drinnen tragen soll, genauso wichtig. Unter den schwarzen Mänteln taucht manchmal sehr wenig Kleidung auf. Oben ohne tanzen weniger die Frauen als die Männer, aber alle sehen wirklich wunderbar aus, weil jeder genau so ist, wie er sein will.

Auch an sicheren Orten muss man wachsam bleiben

Beim ersten Mal im Club bin ich überrascht, dass hier niemand belästigt wird. Hier nackt zu sein, ist keine Einladung. Auf einmal scheint mir mein T-Shirt zu bescheiden, und was hatte ich mir dabei gedacht, als ich diese Jeans anzog? Im Gegensatz zur Sauna ist Sex hier eine Option.

In einer der Nischen sehe ich den größten Penis, den ich je beobachtet habe. Ich weiß nicht, ob es okay ist, dass ich nachgeschaut habe, aber ich glaube, es hat das Paar, das dort Sex hatte, nicht gestört.

Wenn man in einem kleinen Ort lebt, wo jeder jeden kennt, ist es sicherlich nicht akzeptabel, in einem zu freizügigen Outfit herumzulaufen oder Sex in der Öffentlichkeit zu haben. Du weißt, dass bereits in fünf Minuten jemand über dich reden wird, oder noch schlimmer: dich fotografiert. Hier ist es legitim, und es gibt keine Kameras.

Inmitten der Dunkelheit und der Musik, beginnt sich ein Gefühl der Freiheit einzuschleichen. Ein paar Tage später kaufe ich einen transparenten Sport-BH, der zum Club zu passen scheint. Am Wochenende kehre ich ins Berghain zurück und fühle mich so sicher, dass ich mein Hemd ausziehe. Dann fängt ein entblößter Typ an, mich zu berühren und an mir zu ziehen, bittet mich, mitzukommen. Mir wird klar, dass man auch an einem sicheren Ort immer wachsam sein sollte.

Und dann ist da noch die Situation im Dampfbad. Als ich hineingehe, kann ich nichts sehen. „Ein paar Schritte nach vorne und du wirst eine Bank finden“, sagt jemand auf Englisch. „Übrigens, ich bin aus Michigan.“ Ich will nicht reden, aber auch nicht unhöflich sein.

„Die politische Situation in Amerika ist verrückt, ich habe aufgehört zu wählen.“ Er besteht auf einem Smalltalk. Am Anfang dachte ich, das Einzige, was einfachen, enttäuschten Menschen aus aller Welt bleibt, ist, auf einem Stück Plastik in einem Berliner Dampfbad zu sitzen und die Verzweiflung auszuschwitzen. Dann wird mir klar, wo seine Hand ist.

„Man musste sich beschweren, sie hätten ihn sofort rausgeschmissen“, erzählten mir meine einheimischen Freunde. In beiden Fällen fällt mir auf: Sich zu beschweren, oder zu glauben, dass sich jemand darum kümmert, ist in Israel nicht üblich. Auch nach der MeToo-Ära.

In Israel hängen Juden nicht mit Arabern ab

Noch unüblicher, als nackt zu sein, ist es in Israel, wenn Juden mit Arabern abhängen. Es gibt sogar eine extreme Organisation „Lehava“, die jüdisch-arabische Beziehungen bekämpft. Tägliche Begegnungen mit Arabern, immerhin 20 Prozent der israelischen Bürger, finden in Restaurants, in Bussen, manchmal in der Universität statt.

Ich habe keine arabischen Freunde – und das ohne Absicht. Die Schulen sind getrennt, in der Armee wird man nicht an der Seite von Arabern dienen, selbst am Arbeitsplatz habe ich nicht allzu viele kennengelernt.

In den ersten Tagen in Kreuzberg höre ich viel Türkisch und Arabisch. Mehr als je zuvor, und das, obwohl Tel Aviv an Jaffa grenzt. Trotzdem verstehe ich kein einziges Wort. Eines Morgens muss ich zum Flughafen und kann den Taxifahrer nicht finden. Ich rufe ihn an, aber er spricht nur Deutsch und Arabisch. Als ich ihn schließlich finde, versuche ich ihn zu bitten, schnell zu fahren.

Ich erinnere mich an einige Holocaust-Filme und wie Juden darin angeschrien werden. Gott, ich bin eine jüdisch-israelische Frau aus Tel Aviv, die in Berlin in einem Taxi sitzt und einem arabischen Fahrer „Schnell! Schnell!“ auf Deutsch zuruft. Er überquert einige rote Ampeln – so können sich nur Leute aus dem Nahen Osten benehmen – und bringt mich pünktlich dorthin. Natürlich endet es mit einer Umarmung.

Befreit vom Krieg und der konservativen Mentalität

Eines Abends treffe ich einen syrischen Geflüchteten, wir trinken Bier und er erzählt mir, wie sich sein Leben seit seiner Ankunft hier verändert hat – auch was Frauen und Sex betrifft. Die kulturellen Codes in Syrien gelten für ihn in Berlin nicht mehr, er geht in den KitKat-Club. Er ist nicht nur vom Kriegszustand, sondern auch von der konservativen Mentalität befreit worden.

Ich bin das erste israelische Mädchen, mit dem er ausgeht, und er ist mein erster Syrer. Man kann Damaskus von Tel Aviv aus zwar in weniger als fünf Stunden Fahrt erreichen. In der Praxis machen jahrzehntelange Kriege und Hass zwischen den beiden Nationen dieses Treffen nur außerhalb des Nahen Ostens möglich.

In diesem Moment, in einer Bar am Kottbusser Tor, spielt all das überhaupt keine Rolle. Der Typ lächelt und sagt, er fühlte sich in Europa noch nie so wohl, wie jetzt, wo er mit mir zusammen ist – einer russisch-aschkenasischen Israelin. Später bemerkt er, dass ich fast keine Körperbehaarung habe.

„Für viele Frauen in Berlin ist es nicht akzeptabel, Haare zu entfernen“, sagt er und erzählt, dass er selbst seine Haare wachsen lässt. Wir beginnen über Waxing zu reden, vergleichen Typen und Preise. Frieden im Nahen Osten – nicht das, was man dachte.
Die Autorin arbeitet als Journalistin in Tel Aviv und war mit einem IJP-Stipendium beim Tagesspiegel.

Anna Burd

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