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Von 1963 bis 1996 wohnte Grass in diesem Haus in der Niedstraße 13 in Friedenau.

© Kai-Uwe Heinrich

Bei Grass zu Hause in Friedenau: Zwischen Blech- und Wäschetrommel

Mit 16 Jahren kam Margarethe Amelung in den Berliner Haushalt von Günter Grass, häutete die Zwiebeln – und wurde erwachsen. 2007 schilderte sie dem Tagesspiegel den Alltag in Friedenau.

Nun ist es raus, könnte man sagen, und: Skandal. Zum Häuten der Zwiebeln hatte Günter Grass schon 1965 jemanden angestellt, eine unerfahrene 16-jährige Pfarrerstochter aus Osnabrück. Denn als ihm alles zu viel wurde, als man in der Familie jemanden brauchte für die vielen Zwiebeln, die in dem Haushalt in Berlin Friedenau so anfielen, kurz vor der Geburt des vierten Kindes, da schalteten Günter und Anna Grass in der Zeitung „Christ und Welt“ das Gesuch nach einer „Haustochter“, die dann in der Küche des großen Schriftstellers mit der großen Fleischeslust kaum wusste, wie ihr geschah. „Als Lohn schlage ich Ihnen DM 220 vor, wobei ich die Versicherungsanteile und die Steuern trage. Vielleicht wissen Sie, dass der Berliner Senat Angestellten aus Westdeutschland die Reisekosten ersetzt … “, schrieb Anna Grass.

Margarethe Amelung hat dem Mann, dessen Leben sich an diesem Dienstag zum 80. Geburtstag rundet, ein Buch über ihre Zeit als „Haushaltspraktikantin“ zum Geschenk gemacht. Der Mann ist nicht einmal voll ergraut, vielleicht hat ihn seine Lebensweise jung gehalten, „vielleicht wegen dem vielen Fleisch“, sagt Margarethe Amelung, 59, und lacht auf ihrem Sofa, dem guten, grauen Stück, das sich den Besuchern weich entgegenreckt. Ihre Sessel und Sofas sind weich und einladend. Sie wollen besessen werden.

Es ist gemütlich in der Wohnung der Margarethe Amelung, die vom 1. April 1965 an im Berliner Haushalt der Familie Grass in der Niedstraße 13, Friedenau, 14 Monate Hausmädchen war. Bei ihr zu Hause gab es Tapeten, Teppiche und Tischdecken, was ihr insofern bemerkenswert erscheint, als die „TTT“ bei der Familie Grass eben fehlten, obwohl sie doch alles hatten, und den Ruhm dazu.

Über Günter Grass ist alles gesagt, sagen die einen. Warum noch dieses Buch von einer, die keine Zeile von ihm gelesen hatte, als sie anfing? Über Günter Grass ist das meiste von Leuten gesagt, die viel weiter entfernt von ihm sind. Die mit ihrer Meinung etwas bezwecken. Sagt es etwa nichts über einen Menschen, wie er kocht, welche Geschichten er seinen Kindern erzählt, ob er beim Zwiebelschneiden selber weint oder weinen lässt?

Selbstsichere Menschen lassen ihre Pflanzen wuchern

Margarethe Amelung ist eine Spezialistin der Haltung, die älteste Tochter bei sieben Geschwistern im Pfarrershaushalt, heute Physiotherapeutin, spezialisiert auf Verformungen des Rückgrats. Nie würde sie etwas „enthüllen“ wollen. Sie sitzt aufrecht auf ihrem Sofa, das Sofa steht im Dachgeschoss einer Stadtwohnung in Ahrensburg, einem quasi vollverklinkerten Ort bei Hamburg, in dem sie seit 20 Jahren ihre Praxis führt. Noch immer mädchenhaft turnt sie in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.

„Fünf Grass’sche Jahreszeiten“ heißt ihr Buch, als wären die über sie gekommen, unausweichlich wie Wetter. Geschrieben „von dem Mädchen, das immer so leicht errötete“.

Mit 16 also kommt sie in die Schriftsteller-Familie, in dem Alter, in dem die Bekanntschaften und die Abschiede so schnell aufeinander folgen und so zufällig scheinen, jederzeit wiederholbar, und jederzeit zu übertreffen, denn das, was noch kommt, ist ja das meiste vom Leben. Und erst später stellt man fest, dass diese Begegnungen alle noch im Herzen sind und dass auch der Kopf keine Ruhe gibt und die folgende Entwicklung, die man das Leben nennt, zunehmend weniger zufällig scheint, sondern wie zwangsläufig aus diesen Begegnungen erwachsen, was wiederum den ehemals zufälligen Ereignissen im Rückblick eine ganz andere Bestimmtheit verleiht.

In der Niedstraße 13 duckt sich Mitte der 60er Jahre das Haus neben seine großen Nachbarn, ein Apfelbaum im Vorgarten, im selbstsicheren Friedenau, wo selbstsichere Menschen ihre Gärten gerne mit Pflanzen verwuchern lassen. Unten lädt man zum Essen ein, und im ersten Stock, im hellsten Zimmer des Hauses, hofft eine heimwehkranke Pfarrerstochter darauf, dass das schmerzvolle Erwachsenwerden bald überstanden und „der große Schritt vom Schulkinddasein ins Erwachsenenleben getan“ sein wird.

Beim Braten der Hammelkeule

Jeden Morgen gibt es den Saft einer ausgepressten Apfelsine, Kakao für die Kinder. Günter Grass kauft bei der Einweihung des Europa-Centers als einer der ersten Kunden ein rotes Kleid für seine Frau Anna. Die ist gegen Küchenmaschinen, weshalb in dieser Zeit die Schlagsahne per Schneebesen geschlagen wird. Wenn Ingeborg Bachmann zu Besuch ist, füllt sie mit ihrer warmen, ruhigen Stimme die Räume.

In der Küche zeigt Fleischliebhaber Günter Grass der Haustochter, wie man eine Hammelkeule brät. Im Juni kann sie die Hammelkeule alleine, bald die Sülze, die Kuttelsuppe und das Kalbshirn. Nie kommt sie auf die Idee, die Rezepte aufzuschreiben, sie hat sie bis heute einfach behalten. „Also rieb ich die scharfen Zwiebeln. Die Tränen schossen nur so aus meinen Augen. Herr Grass war sichtlich schadenfroh. Zu seiner Frau sagte er: Schau dir mal unsere Margarethe an, die weint Freudentränen. Und das wegen der Zwiebeln … “ Grass war der Koch, aber der Helferin tränten die Augen. Und das passte ja auch. Großschriftsteller weinen nicht selbst, die lassen weinen.

Für ihr Buch half der Lektor Margarethe Amelung, die Übergänge zu glätten, er sagte ihr, sie müsse auch etwas über sich selbst und ihre Familie hineinschreiben, sonst sei es nicht interessant. Margarethe Amelung hatte noch nie einen so großen, zusammenhängenden Text verfasst.

Es war vieles anders bei der Familie Grass, beinahe wie im Ausland. Hier musste gehäutet werden, was man anderswo einfach schälte. Anna Grass, die ja Schweizerin war, und die Kinder wechselten allein ihretwegen vom Schwyzerdütsch ins Hochdeutsch. Nur der „Herr Grass“ sprach immer seine Muttersprache. Die Betten waren im Schweizer Stil gemacht, mit Wolldecken und Laken und die Kinder durften selbst entscheiden, ob sie am Sonntag in die Kirche wollten.

Es war möglich hier, dass ein Vater als leidenschaftlicher Kirchenkritiker seine Kinder katholisch taufen ließ, damit auch sie die Chance bekommen sollten, sich irgendwann einmal selbst dagegen zu entscheiden. Es war möglich hier, den Metzger nie mit einem zähen Stück Fleisch zu verlassen, weil der ja wusste, wer man war. Es war deshalb möglich, dass die Hammelkeule besser schmeckte, als bei anderen Menschen. So vieles war möglich. Und während Margarethe Amelung in ihrem kleinen Radius im Dreieck sprang, von der Wohnung zum Metzger zum Delikatessengeschäft, schrieb Max Frisch ein paar Straßen weiter, und Uwe Johnson nebenan, alle saßen irgendwann auf der Gartenterrasse von Günter Grass und festigten den Mythos von Friedenau als Literaturstandort.

Währenddessen stand Margarethe Amelung in der Küche und machte Sülze. Hier wurde produziert. Sie stand im Feuerraum dieser potenten, gleichermaßen Worte wie Braten auswerfenden, ständig unter Dampf stehenden Grass-Maschine. Es brauchte einiges, um sie am Laufen zu halten. Die Eltern waren viel unterwegs, und die Haustochter hütete die Kinder, manchmal zusammen mit der Kinderschwester Hanny. Margarethe bügelte dem Hausherrn für seine USA-Reise ein rosa Hemd. Im Sommer fuhren sie in die Bretagne, wo Margarethe erfuhr, dass Artischocken existieren. Einmal schwamm sie sehr weit raus und die Familie Grass machte sich Sorgen.

„Es erschien mir alles so selbstverständlich damals“, sagt sie. Im Nachhinein verlor sich das. Erst im Nachhinein wunderte sie sich. Wie jung sie gewesen war, mit all’ dieser Verantwortung. Wie ruhig die Erwachsenen sie ihr übertrugen. Wie konnte Anna Grass sicher sein, dass alles in ihrem Sinne geschah?

Anna Grass war stets sehr beherrscht

Erst im Nachhinein hat Margarethe Amelung Günter Grass’ Bücher gelesen und die Mappe angelegt, in der sie Zeitungsausschnitte sammelt. Aber vor allem hat sie Mitte der 70er dieses Manuskript verfasst, das zusammen mit den Briefen, die sie nach Hause geschrieben hatte, Grundlage für das Buch geworden ist. Damals war sie in England mit ihrem Mann, die zwei Söhne ganztags in der Schule. Da nahm sie eine Schreibmaschine und hämmerte die Erfahrungen, die ihr aus der Entfernung von inzwischen zehn Jahren um so kostbarer erschienen, auf Papier.

Es ist vermutlich Zeichen für einen wirklich großen Schriftsteller, wenn er schon mit der reinen Verkörperung des Schriftstellers etwas auslösen kann. Grass hatte das Leben einer Frau verändert, und das ohne eine einzige geschriebene Zeile. Aber wer sagt denn, dass es unbedingt die Literatur ist, aus der man lernen soll? Dass nur die Literatur zum Lernen taugt?

Als Margarethe Amelung selbst Mutter wird, geht sie mit ihrer Familie nach Indonesien, die Kinder gehen auf internationale Schulen. Sie hat jetzt selbst Hausangestellte und erinnert sich daran, wie beherrscht Anna Grass immer gewesen war. Wenn es ihr gelänge, zu sein wie sie … Später zerbricht ihre Familie, und auch Günter trennt sich von seiner ersten Frau. Anna Grass berichtet ihr noch Jahre später in ihrer großzügigen Handschrift „am Kamin und auf den Knien“ aus ihrem Leben. Die Blätter, angegilbte Beweise, liegen auf dem Wohnzimmertisch in Ahrensburg. Wie die kleinen, quadratischen Fotos, die das Kindermädchen Hanny gemacht hatte, und die silberne Kette aus Mexiko, das Abschiedsgeschenk an die „Haustochter“.

Was aus dem Leben mit Grass bis in die Gegenwart reicht? „Ich zeig Ihnen was“, sagt sie, und holt aus ihrer Küche eine orangefarbenes Plastikgestell, in das man eine runde Metallreibe klemmt. So eine Reibe hatten sie in Friedenau. Margarethe Amelung hat sie gekauft, nachdem ihre Küchenmaschine den Geist aufgegeben hatte. Und ganz im Gegensatz zu der elektrischen Maschine zerkleinert das manuelle Gerät per Kurbel Zucchini und Möhren seit Jahrzehnten klaglos. Nur den altersschwachen Knauf der Kurbel hat sie inzwischen mit einem Weinkorken ersetzt. Manchmal macht sie Artischocken mit Vinaigrette, die alten Rezepte kommen ihr einfach in den Sinn, und zu besonderen Gelegenheiten gibt es eine Grass’sche Hammelkeule, gespickt mit Knoblauch und Rosmarin.

Die Zeit im Hause Grass’ war eine Erfahrung, die sie nie mehr verließ. Sie war ja wie mit fremden Blütenstaub bestäubt.

Immer bereit, ein Feuerchen zu legen

In ihrem Arbeitszimmer liegt neben der physiotherapeutischen Fachliteratur ein bunter Plastikschädel, daneben die Bücher von Grass, von denen sie sich einige bei Lesungen hat signieren lassen. Für ihr Wohnzimmer hat sie eine Zeichnung von ihm erworben, die die Verwandlung des hässlichen Entleins zum Schwan zum Thema hat. Und bei einer Ausstellung im Seniorenheim hat sie ein Bild gekauft, das ein Altenpfleger von einem Foto abgemalt hatte. Sie fand, es traf: Günter Grass, der Blick kritisch, in der Hand ein gerade angerissenes Streichholz. Ein Mann, so scheint es, der immer bereit ist, Feuerchen zu legen, sein Blick lauert über dem Schnauzbart, den er sich in seinem Gesicht angelegt hatte wie einen Garten, um seinem Kinn landschaftlich etwas entgegenzusetzen.

„Na, wen haben wir denn da?“, fragte Günter Grass, als sie sich am letzten Freitag auf dem Bahnsteig in Hamburg in die Arme liefen. Alles war plötzlich leicht verrückt. Auch sie, Margarethe Amelung, war nun auf dem Weg zur Buchmesse. Sie war dort umgeben von Verlagsmitarbeitern, die sich über das rechtzeitige Erscheinen ihres Buches freuten. Sie sprach in die Mikrofone verschiedener Rundfunksender. „Es ist wie noch ein Kind“, sagt sie über das Buch.

Wollte sie teilhaben an seinem Ruhm? Wollte sie, dass endlich auch etwas davon auf sie fiel?

Margarethe Amelung ist eine sorgfältige Person, sie interessiert sich für meditativen Tanz, sie teilt, sagt sie, weder das immense historische Wissen von Günter Grass, noch dessen Interesse für die Politik.

Nein, es gab da einfach etwas, das hatte jetzt schon 30 Jahre herumgelegen. Es sollte nicht verkommen. Es wäre schade drum. Es war eine pragmatische, effiziente Entscheidung. Eine gute Haushälterin erkennt man ja auch daran, wie sie mit den Resten umgeht.

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