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Kämpferisch. Norbert Gstrein.

© G. Schmidt

Begegnung mit Norbert Gstrein: Macht und Lügen

"Es ging nicht um Rache, das müssen Sie mir glauben." Nachgetragene Revolte: Eine Begegnung mit dem Schriftsteller Norbert Gstrein.

Norbert Gstrein sieht gut aus an diesem regnerischen Vormittag in Prenzlauer Berg, braungebrannt, entspannt, erholt. Er ist gerade von einem dreiwöchigen Urlaub aus Kroatien zurück und schaut nun, „was übrig ist von meiner bürgerlichen Existenz“. Das meint er im Spaß, ein Anflug von Ernst aber ist zu erkennen, von leichter Paranoia, gesteht er. Eine bürgerliche Existenz, die der gebürtige Tiroler zwischen Hamburg, wo Freundin und Tochter wohnen, und Berlin führt, wo er eine Arbeitswohnung gemietet hat.

Die Rezensionen seines Romans „Die ganze Wahrheit“, der nicht zuletzt von einer der Suhrkamp-Verlegerin sehr ähnlichen Figur handelt, hat er in Kroatien gelesen, im Internet. Ihm sei klar, „dass trotz vieler wohlwollender Besprechungen die Aufnahme ungünstig ist“. Doch habe er damit gerechnet, der Gegenwind gehöre gewissermaßen zum Programm seines Buchs. Nachdem Gstrein im Juni im Literarischen Colloquium Berlin für eine Radiosendung erstmals über den Roman gesprochen hatte, war „Die ganze Wahrheit“ als potenzieller Skandalauslöser betrachtet worden, als Schlüsselroman, der eine weitere Folge der Suhrkamp-Soap liefern würde. Der Kreis schließt sich: Am heutigen Sonnabend findet im LCB das Suhrkamp-Sommerfest statt, ab 15 Uhr.

Der Skandal ist allerdings ausgeblieben, auch weil Ulla Unseld-Berkéwicz so klug ist, nicht gerichtlich gegen das Buch vorzugehen. Für Irritationen hat „Die ganze Wahrheit“ im klatschsüchtigen Literaturbetrieb aber gesorgt, woran Gstrein selbst nicht unschuldig ist. Im LCB wies er ungefragt darauf hin, sein Roman würde an eine personelle Konstellation bei Suhrkamp erinnern, „um die Leute nicht für blöd zu verkaufen, um zu zeigen, dass dort natürlich eine zweite Spur mitläuft“. Nach zwei Interviews zum Erscheinungstermin entstand dann der Eindruck, Gstrein wolle von der zweiten Spur weg. Sein Buch sei ganz und gar kein Schlüsselroman, sagte er da, er habe im LCB nur einer Skandalisierung zuvorkommen wollen.

Mehr und mehr schien sich der Österreicher verheddert zu haben – nicht in seinem literarischen Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion, das ist ihm in „Die ganze Wahrheit“ so raffiniert wie unterhaltsam geglückt. Sondern im öffentlichen Umgang damit. Wer Suhrkamp sagt, sollte auch Suhrkamp meinen, denkt man. Gstreins Crux: Die strenge Form seines Romans steht im Gegensatz zur eher lockeren Form des gesprochenen Worts.

Er sagt nun, wie er einem da sehr urlaubstiefenentspannt gegenübersitzt, „dass es vielleicht nicht das Klügste ist, wenn ein Autor sich zum ersten Interpreten seines Romans macht. Ich hätte die Kritiker erst selbst schauen lassen sollen, ohne eine Spur zu legen.“ Und fügt an, nachdenklicher, ernster, schon weniger entspannt: „Man muss sehr exakt sein, wenn man die zweite, untergründig im Roman mitlaufende Spur betrachtet. Ich habe mich ja vor allem gegen Unterstellungen gewehrt, ich hätte ein Porträt von Ulla Berkéwicz geschrieben. Das habe ich nicht. Ich spiele mit Elementen aus der Realität, ich konstruiere etwas, ich dekonstruiere etwas. Und: Wie grotesk, wie verzerrt muss die Fiktion sein, damit man endgültig sagen kann, die hat nun aber nichts mehr mit der Realität zu tun? Hat nicht auch die Realität ein Problem, wenn sie selbst hinter der größten Groteske noch zu erkennen ist?“

Ein anderes Problem, Porträt hin oder her, fiktive Grotesken hin, reale Verzerrungen her: Bei der Lektüre kommen weder Kritik noch kundige Leser am Sterben Siegfried Unselds, dem „Überlebnis“Buch von Ulla Berkéwicz und ihrer Person vorbei – und Gstrein weiß das nur zu gut. So verschwimmen an diesem Vormittag die Grenzen zwischen Literatur und Realität, vor allem der Suhrkamp-Realität. Einerseits ist es anregend, sich mit Gstrein über seine Poetik zu unterhalten, über die Anstrengungen gerade auch seiner früheren Bücher, die Risse zwischen Wirklichkeit und Fiktion sichtbar zu machen; sein Blick nimmt dabei einen schönen, starr-leuchtenden Ausdruck an.

Andererseits spricht er fast im Plauderton vom Suhrkamp Verlag und dessen Geschicken, was nicht von ungefähr kommt. Seit seinem Erzähldebüt „Einer“ 1988 war Norbert Gstrein auch mit seinen Büchern „Das Handwerk des Tötens“ und „Wem gehört eine Geschichte?“ bis 2005 Suhrkamp-Autor, bevor er zum Hanser Verlag nach München wechselte.

Was zum Bruch geführt hat, darüber spricht er vielsagend-verklausuliert, der Auslöser sei nicht der Rede wert gewesen. Dann nennt Gstrein Namen von Lektoren und Autoren, die den Verlag verlassen haben und denen er nahestand. Das brachte für ihn Loyalitätskonflikte mit sich, den Umgang des Verlages mit diesen Trennungen konnte und wollte er nicht gutheißen. Schließlich formuliert er es so: „Ich war in einer Lage, in der ich Fiktionen für die Wirklichkeit hätte halten sollen. Ich musste mich entscheiden. Wer die Macht hat, allgemein gesprochen, kann Untergebenen ins Gesicht lügen, ohne diese Lügen im Geringsten zu kaschieren, und kann die Lügen für die Wirklichkeit ausgeben. Man kann natürlich versuchen, diese Macht durch Fiktionen zu untergraben. Damit hätten Sie auch einen Subtext meines Romans.“

Offener ist er, als es um die Wahl des Stoffs geht. Den hält er für nicht so milieubezogen. Da „schlummerten“ doch andere, größere Themen wie „Das Schreiben übers Sterben“ oder „aufgesetzter Philosemitismus“. Gerade jetzt, „wo die letzten Zeitzeugen sterben und man es an den Rändern mit zwei problematischen Formen von Erinnerung zu tun hat. Der rituellen Erstarrung hier, einem Zerfließen von allzu empathischer Nähe dort. All das zieht sich durch den Roman!“

Er lacht auf bei der Frage, ob diese Themen ihn denn zum Schreiben des Romans bewogen hätten. Und wirft die Formulierung „nachgetragene Revolte“ in den Raum, ohne sie näher zu erläutern, wohl wissend, damit wieder mitten im vermeintlichen Suhrkamp-Abrechnungsdiskurs zu landen. Also lieber so: „Dieser Roman bot sich mir als etwas Naturgemäßes an. Bei der Frage nach meiner Motivation kann ich doch gegenfragen: Warum hat bislang kein anderer darüber geschrieben?“

Immerhin hat „Die ganze Wahrheit“ noch eine andere Vorgeschichte. Ende der neunziger Jahre schrieb Gstrein ein Theaterstück, in dem eine an Ulla Berkéwicz erinnernde Figur mit einem Stück am Burgtheater durchfällt, eine Szene, die jetzt in „Die ganze Wahrheit“ auftaucht. „Siegfried Unseld sagte“, so Gstrein, „dass wir dieses Stück nicht veröffentlichen sollten. ,Damit tun wir uns und Ihnen keinen Gefallen.’ Unseld war dabei völlig entspannt. Das Stück müsste noch im Suhrkamp-Archiv liegen.“

Irgendwann kommt einem der Gedanke, dass die Beschäftigung mit Suhrkamp wohl auch eine Obsession von Gstrein ist. Man ertappt sich dabei, mit ihm lieber länger über anderes aus seinem Leben plaudern zu wollen, sein Mathematik-Studium, das Schreiben seines Debüts Mitte der achtziger Jahre in Kalifornien oder die Wohnungssuche im Prenzlauer Berg. Doch lebt Gstrein wie alle Schriftsteller noch in seinem aktuellen Buch, weshalb er selbst immer wieder zur Causa Suhrkamp zurückkehrt. Mehrmals bittet er, das Aufnahmegerät auszustellen, um eine weitere, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte SuhrkampGeschichte zu erzählen.

Oder er berichtet sarkastisch, dass ihm „Die Welt“ nicht nur zwei, sondern gleich drei, vier blaue Augen geschlagen hätte, „es gehen doch nur zwei!“ und ergeht sich in Mutmaßungen über die Gründe. Am Ende betont er, sein Buch sei „keine fiktionalisierte Rache, das müssen Sie mir glauben“. Mehr noch glaubt man ihm, als er beim Bezahlenb auf die Frage, ob ihm das Schreiben dieses Buchs eigentlich Spaß bereitet hätte, antwortet: „Verdammt viel Spaß!“

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