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Schreckensort. Das Haupttor der Gedenkstätte des ehemaligen KZs Sachsenhausen.

© Michael Hanschke/dpa

Befreiung des KZ Sachsenhausen: Unsere Väter und Mütter auf dem Dachboden

Vor 72 Jahren wurde das Konzentrationslager Sachsenhausen befreit. Über die Stille und den Widerstand in Europa, damals und heute. Eine Rede zum Gedenktag.

Und dann war es auf einmal still. Eine Stille, so seltsam und absolut, wie ich sie, meinem Gefühl nach, später kaum mehr erlebt habe. Wir hörten die Vögel draußen singen. Manche brachen in ein schreckliches Geheule aus. Jemand wagte es, hinauszugehen. Es muss ein Niederländer gewesen sein, denn plötzlich erklang es von oben an der Treppe in niederländischer Sprache: ,Kommt raus, wir sind frei, hurra, wir sind frei, kommt raus, die Russen sind da, wir sind frei’.“

Das war am Montag, den 23. April 1945, vor genau 72 Jahren im KZ Sachsenhausen, und es spricht Henk Gortzak, ein kommunistischer Widerstandskämpfer aus meiner Stadt, aus Amsterdam. Ganz Europa war hier vertreten, in diesen Höllenkreisen. Gortzak beschreibt, wie die Überlebenden dieses letzte Wochenende in einer Art Niemandsland verbrachten.

Die SS-Bewacher waren am Samstag verschwunden, der Sonntag war ein wunderschöner Tag, überall kamen geflohene Zwangsarbeiter aus den Wäldern, aus den Vorräten wurde in großen Töpfen Reis und Erbsensuppe gekocht, viele Häftlinge lagen, soweit ihre Mägen das Essen vertrugen, zufrieden in der Sonne, und dann, ganz unvermittelt, begann der Krieg wieder. Die Schießereien dauerten die halbe Nacht, alle dachten, dies sei nun doch noch das Ende. Am Montagmorgen war es plötzlich still. Dieses Moments gedenken wir jetzt. Dieser Stille.

Wenig später kam die reguläre russische Armee ins Lager, mit einem Mal waren überall Ärzte und Sanitäter. Gortzak und zwei Amsterdamer Freunde beschlossen, das Lager zu verlassen. Sie zogen eine Weile umher, halfen ihren ehemaligen Mitgefangenen in Potsdam bei der Gründung einer neuen kommunistischen Partei und gelangten Ende August wieder nach Amsterdam. Gortzaks Frau Jans war wütend. „Hast du eine Ahnung, wie oft ich in den ersten Monaten zum Bahnhof gegangen bin, um irgendetwas über dich zu erfahren? Geht die Partei denn über alles?“ Erst später, sehr viel später begriff Gortzak, was sie meinte.

Jeder Ex-Gefangene füllt die Stille auf seine Weise aus

Die Ex-Gefangenen füllten nach ihrer Befreiung diese Stille auf ihre je eigene Weise aus. Viele blieben politisch aktiv. Der norwegische Häftling Einar Gerhardsen wurde gleich nach dem Krieg zum Osloer Bürgermeister ernannt, führte im selben Jahr auch die Übergangsregierung und diente seinem Land 17 Jahre lang als Ministerpräsident. Sein Landsmann Trygve Bratelli stand zweimal an der Spitze der Regierung. Antonín Zápotocký wurde Präsident der Tschechoslowakei – sein kritischer Lagergefährte Jakub Cermín landete hingegen 1952 wieder im Gefängnis. Der Pole Andrzej Szczypiorsky wurde Schriftsteller und schließlich Senator für Solidarność. Henk Gortzak saß als Abgeordneter der kommunistischen Partei der Niederlande im Parlament, bis er den rigiden Stalinismus der Parteileitung nicht länger ertragen konnte und „kaltgestellt“ wurde. Seinen Aufenthalt in Sachsenhausen verarbeitete er, soweit das möglich war, durch Schweigen.

Das waren die Häftlinge selbst. Und wir, Deutsche und Niederländer, alte und junge Generationen, wie haben wir diese Stille ausgefüllt? Wie sind wir mit unserer Verwirrung, unserer Wut, den Schuldgefühlen umgegangen, ja, auch mit denen der Opfer? Wie mit den historischen Lektionen von Sachsenhausen und den anderen Schreckensorten? Anfangs behandelte man diese Fragen meist sehr einfach. Es hieß „die“ Deutschen und „die“ Italiener gegen „die“ Niederländer, Franzosen, Polen, Tschechen und die anderen Europäer. Die Solidarität, aufgrund der Henk Gortzak und seine Mitgefangenen überlebten, umfasste aber ebenso deutsche Sozialdemokraten wie Kommunisten, Christen, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und all die anderen, die das Unglück an diesen Ort verschlagen hatte. Doch die meisten Außenstehenden nationalisierten die Stille, es hieß erneut „wir“ gegen „die anderen“.

Starautor aus Holland. Geert Mak, fotografiert 2016 auf der Frankfurter Buchmesse.
Starautor aus Holland. Geert Mak, fotografiert 2016 auf der Frankfurter Buchmesse.

© Arno Burgi/picture alliance

Mein eigenes Land, die Niederlande, hegte nur allzu gern den Mythos der Unschuld. Wir hatten alle Anne Frank auf dem Dachboden versteckt, aber dass sie anschließend von ganz normalen Amsterdamer Polizisten verhaftet und von anständigen niederländischen Eisenbahnbeamten in den Untergang transportiert wurde, davon wollten wir nichts wissen. Das deutsche Selbstbild wurde lange vom Gegenteil beherrscht: Schuld. Dadurch wurden bestimmte Teile der Geschichte verdrängt, zum Beispiel die schrecklichen Dinge, die Flüchtlinge und Bombenopfer erlebten. Die Diskussionen waren heftig, als auch dieses Leid einen Platz im großen deutschen Narrativ einforderte.

Der deutsche Widerstand verdient eine Neubewertung

Dieselbe Neubewertung verdient der deutsche Widerstand. Deutschland hat einen Prozess der beinahe vorbildhaften Selbsterforschung hinter sich, doch was im niederländischen Selbstbild immer im Zentrum stand, das Heldentum der Unangepassten, blieb hier oft unterbelichtet. Es waren viel zu wenige, dennoch gab es hunderttausende Deutsche, die den Mut hatten zu sagen: „Ich nicht“.

Unter den 70.000 Häftlingen, die sich Anfang Februar 1945 im KZ Sachsenhausen und seinen Außenlagern befanden, waren auch tausende deutsche Gegner des Nationalsozialismus. In den Schulen wurde und wird dieses Thema ziemlich intensiv besprochen, aber dennoch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Widerstand irgendwie nicht ins deutsche Narrativ zu passen scheint.

Warum? Es kann daran gelegen haben, dass das Thema belastet war: Es gab in der Vergangenheit Gruppen, die, unter Ausschluss anderer, für sich in Anspruch nahmen, „der“ Widerstand, das einzig „gute“ Deutschland gewesen zu sein – vor allem die Kommunisten in der DDR verstanden sich darauf. Das Stigma des „Landesverrats“, das den Dissidenten noch lange anhaftete, kann auch eine Rolle bei dieser Marginalisierung gespielt haben. Die Existenz dieses Widerstands blieb auch deshalb so lange im Schatten, weil sie zeigte, dass eine individuelle Entscheidung möglich war. Eine unglaublich schwierige Entscheidung mit enormen Konsequenzen, aber dennoch eine Entscheidung. Und, für spätere Generationen, eine exemplarische und inspirierende Entscheidung.

Auf dem Dachboden geistern die Mütter und Väter herum

Henk Gortzak hat seine Entscheidung in einer nüchternen, zugleich beeindruckenden Autobiografie beschrieben. Der tiefgreifendsten Erfahrung seines Lebens, Sachsenhausen, widmet er nur eine Handvoll Seiten. Schweigen blieb sein Motto, auch wenn er zugab, dass die Erinnerungen vor allem nachts mächtig auf ihn einstürmten – selbst 40 Jahre später noch.

Gortzak gehörte zu den, so will ich sie nennen, „Vätern auf dem Dachboden“. Viele Menschen aus meiner Nachkriegsgeneration sind mit nachts herumgeisternden Vätern und niedergeschlagenen Müttern aufgewachsen. Ob wir nun Polen, Deutsche, Spanier, Franzosen oder Niederländer sind, in all diesen Familien waren sie Nacht für Nacht wieder da, die Schlachtfelder, Bombardements und Konzentrationslager, ob sie Stalingrad, Warschau, Sachsenhausen, Hamburg oder Theresienstadt heißen.

Diese Väter und Mütter auf dem Dachboden, sie verbinden uns Nachkriegseuropäer. Ihre stille Anwesenheit hatte großen Einfluss auf die europäische Politik und das europäische Projekt. Ohne ihre persönliche Geschichte hätten viele Politiker und Diplomaten der Nachkriegszeit nicht den Mut und die Kraft gehabt, über den eigenen Schatten zu springen, wenn es notwendig war.

„Keine einzige Kultur ist an sich barbarisch, kein einziges Volk ist endgültig zivilisiert“, schrieb der bulgarisch-französische Historiker Tzvetan Todorov. „Sie können alle sowohl das eine wie das andere werden. Das ist das Charakteristikum der Menschheit.“

Überlebende, Angehörige und Schüler gedenken am 21. April in Below, Brandenburg, der Opfer des Todesmarsches von 1945, als die SS Häftlinge aus Konzentrationslagern wie Sachsenhausen und Ravensbrück nach Nordwesten trieb.
Überlebende, Angehörige und Schüler gedenken am 21. April in Below, Brandenburg, der Opfer des Todesmarsches von 1945, als die SS Häftlinge aus Konzentrationslagern wie Sachsenhausen und Ravensbrück nach Nordwesten trieb.

© Bernd Wüstneck/dpa

Ich muss an einen lieben Freund denken, an Otto von der Gablentz, ein deutscher Diplomat, der jahrelang in den Niederlanden lebte. Er hat mir einmal erzählt, wie sein Vater ihm – er war 14 – bei einem Waldspaziergang eröffnete, dass er im Widerstand aktiv war. Otto Heinrich von der Gablentz war Mitglied des Kreisauer Kreises, doch er gestand seinem Sohn auch, wie schwer ihm diese Entscheidung als loyaler Staatsbürger gefallen war. Er akzeptierte die Einsamkeit und die Gefahr: aufgrund seiner tiefen Überzeugung, dass uns, trotz aller Unterschiede, eine höhere Menschlichkeit verbindet. Dieses Gespräch hat das Leben seines Sohnes Otto für immer geprägt, es machte ihn zu einem prominenten Friedensstifter. Solche Väter auf dem Dachboden gab es auch.

Jetzt verschwinden auch die Generationen, die indirekt Zeuge waren

Henk Gortzak lebt schon lange nicht mehr, mein Freund Otto ist gestorben. Jetzt verschwinden auch die Generationen, die nur indirekt Zeuge waren. Die Väter auf dem Dachboden verstummen. Das bedeutet, dass bestimmte Gebiete mit größerer Unbefangenheit erkundet werden können. Zugleich aber besteht die Gefahr, dass mit dem Verstummen auch die Dringlichkeit aus der Debatte verschwindet, weniger aus der historischen als aus der politischen und der europäischen Debatte.

Und das zu einer Zeit, in der die Ideale und der Widerstand jener Väter und Mütter aktueller sind denn je. Ein US-Präsident, der in seiner Antrittsrede die Grundlagen für ein totalitäres System skizziert, der alles, was eine Demokratie ausmacht – unabhängige Rechtsprechung, freie Presse, ausgewogene Volksvertretung – beiseiteschieben will. Europäische Nationalisten und Populisten, die jubelnd seinem Beispiel folgen. Die alte Dolchstoßlegende vom „Verrat“ der Eliten, die wieder auflodert. Die Angst vor dem Fremden, die die öffentliche Diskussion erneut beherrscht. Das Massenmedium Twitter, in dem der Hass fröhliche Urständ feiert.

Wiederholen sich die dreißiger Jahre? Nein, dafür sind die Unterschiede zu groß. Unsere Demokratien sind unendlich viel widerstandsfähiger als damals. Doch selbstverständlich ist all dies nicht. Erneut geht es um unsere Grundrechte, um unsere demokratischen Institutionen, um unsere Freiheit, um den Erhalt unserer menschlichen Werte und Würde. Erneut gibt es Anlass zu größter Wachsamkeit. Vor allem die junge Generation wird den Begriff „Widerstand“ neu erfinden müssen. Genau wie damals.

Gerade heute brauchen wir ihren Mut und ihre Inspiration

„Und dann war es auf einmal still.“ Henk Gortzak hat diese Stille auf seine Weise durchbrochen. Dennoch empfand er am Ende seines Lebens Enttäuschung. Mit den Gräueln des sogenannten „realexistierenden Sozialismus“ konfrontiert, seufzte er, den Tränen nahe: „Ist also unser ganzes Leben umsonst gewesen?“ – „Ja“, sagte seine Frau Jans, „ich fürchte, so ist es.“ War dieses tapfere Leben tatsächlich umsonst? Ja, das war es, wenn man das ideologische Lärmen betrachtet, das auf die Stille folgte, die Haarspaltereien, die Repressionen und die Unfreiheit. Es war aber nicht umsonst, wenn wir an den aufrichtigen Idealismus denken, der viele Häftlinge antrieb, an ihren Mut, ihre Kameradschaft, ihre internationale Zusammengehörigkeit, ihr stolzes: „Ich nicht“.

Gerade heute brauchen wir ihren Mut und ihre Inspiration. Weil uns bewusst ist, dass wir Seite an Seite stehen, die junge Generation an der Seite der beinahe vergessenen Väter und Mütter auf dem Dachboden, die Lebenden an der Seite der Toten. Wir brauchen einander dringend, erneut, in den Stürmen, die kommen.

Geert Mak, 70, hält diese (hier geringfügig gekürzte) Rede bei der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen an diesem Sonntag um 15.30 Uhr. Weitere Infos: www.stiftung-bg.de. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens.

Geert Mak

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