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Notenskizze zur Missa solemnis in einem der "Konversationshefte", wie sie Beethoven wegen seiner Schwerhörigkeit von 1819 an benutzte.

© akg-images

Beethoven-Jahr: Im Tunnel zwischen Jerusalem und Wien

Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann liest Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst.

Mit Beethoven ist man im Hochgebirge unterwegs, wo der Blick trotz aller Himmelsnähe immer nur bis zum nächsten Gipfel reicht. Die mächtigen Zinnen der Neunten verstellen hier gerne die Sicht, vor allem auf das Schwesterwerk, die Missa Solemnis. Wer zum Jubiläumsjahr nicht im großen Strom der Beethoven-Aufführungen schwimmen will, findet in dieser klingenden, scharfkantigen, mit Ausrufezeichen gespickten Interpretation des lateinischen Messtextes seine Herausforderung.

Der Rundfunkchor Berlin hat die Missa Solemnis unter seinem Chefdirigenten Gijs Leenaars in einer warmen, lichten Lesart geöffnet, um sie im Oktober zum Herz einer Konzertinstallation zu machen. Dabei werden die Zuhörer auch durch die Clubkatakomben des SchwuZ wandeln, wo normalerweise andere Musik im Mittelpunkt steht und nicht nur die. Ganz ohne wissenschaftlichen Beistand will man sich aber nicht in die Expedition zwischen Darkroom, Glaubensbekenntnis und ewigem Leben begeben.

Regisseur Tilman Hecker und Rundfunkchor-Direktor Hans-Hermann Rehberg haben Jan Assmann angestoßen, sich die Missa Solemnis einmal genau anzuschauen. „Von mir aus wäre ich nie auf den vermessenen Gedanken verfallen“, bekennt Assmann im Vorwort. „Das selten aufgeführte Werk war mir ziemlich fern gestanden und ist mir erst im Lauf dieser Untersuchung sehr nahe gekommen.“

Emanzipation von der Liturgie

Der 82-jährige Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler will dem Verhältnis von Kult und Kunst bei Beethoven nachspüren und wirft dafür mit geschmeidigem Wurf sein bewährtes Netz aus. Assmanns These: Beethovens Missa Solemnis stellt die erste Messkomposition dar, „die sich nicht nur durch ihre äußere, sondern vor allem auch durch ihre innere Größe von dem liturgischen Rahmen emanzipiert hat, in dem sich die Messe als musikalische Gattung bis dahin seit siebenhundert Jahren entfaltet hatte.“

Tatsächlich ging es mit dem Komponieren des Messtextes erst dann spürbar voran, als Beethoven sich gänzlich vom ursprünglichen Anlass seines Tuns befreit hatte. Eigentlich sollte seine Missa Solemnis erstmals zur Einführung seines treuen Förderers Erzherzog Rudolph als Erzbischof von Olmütz erklingen – natürlich in einem Kirchenraum.

Tatsächlich übergab er die Reinschrift der Partitur erst drei Jahre später. Die ersten Takte waren im Rahmen eines Konzerts zu hören, nicht eines Gottesdienstes, allerdings als „Hymnen“ deklariert und mit deutschem Text, weil Messvertonungen nur in Kirchen aufgeführt werden durften.

Für Assmann steht fest: Beethoven „wollte die Quadratur des Kreises: ein Werk, das auf der einen Seite ganz freier, individueller Ausdruck persönlicher Gottsuche ist und auf der anderen Seite das Ideal ,wahrer Kirchenmusik’ im liturgischen Sinne verwirklicht.“ Erst mit dem Scheitern im ersten Anlauf entwickelte sich – wie mit der Neunten – etwas völlig Neues: die erste Konzertmesse.

Auszug aus Ägypten

Um Beethovens Emanzipation nachzuzeichnen, beginnt Assmann dort, wo er sich auskennt, in Ägypten. Die Erinnerung an den Auszug der Israeliten aus der Sklaverei schuf einen religiösen Kult, den Christus mit seinem letzten Abendmahl aufnahm und neu prägte. Assmann kommt es vor, als wolle er mit seinem Buch einen Tunnel unter einem großen Berg hindurchtreiben.

„Am einen Ausgangspunkt“, schreibt er, „liegt die Stadt Jerusalem, wo Jesus das Abschiedsmahl mit seinen Jüngern feiert, das dann zum Ausgangspunkt liturgischer Feiern wird, in denen die wachsende Gemeinde Jesu Leben und Sterben gedenkt. Am anderen Ende liegt die Stadt Wien, in der Ludwig van Beethoven in den Jahren 1819 bis 1824 an seiner Missa Solemnis op.123 arbeitet.“

Dazwischen liegen zweieinhalbtausend Kilometer Luftlinie und eintausendachthundert Jahre, die Liturgien der weströmischen Kirche, ihre mehrstimmigen Verstonungen von Palestrina, Guillaume Dufay, Josquin Desprez und Guillaume de Machaut und die großen Messen von Bach, Haydn und Mozart.

Es ist das Wesen eines Tunnels, dass man in ihm nur einen begrenzten Horizont hat und stets nach vorne blickt in der Hoffnung, dort das Licht zu sehen. Und so folgt man Assmann nach seiner zugewandten, die eigenen Fragen und Beschränkungen offenlegenden Einleitung in die Welt des Kultes und der Religion, in der er jeden Abzweig kennt, sich aber die Mühe erlässt, alle Details auszuleuchten oder mit Beethoven zu verknüpfen.

Durst nach Musik

So kommt die Hälfte des Buches ohne jede Musik aus, beim Lesen dürstet es einen immer mehr nach ihr. Das ist dramaturgisch ein guter Effekt, der allerdings keine direkte Erlösung vorsieht. Denn Assmanns folgenden, von 50 Notenbeispielen flankierte musikalische Analyse arbeitet sich unter üppigem Einsatz von Fachtermini linear durch die Missa Solemnis, wo der einerseits in Kultfragen gestählte, andererseits musikalisch ausgehungerte Leser jetzt auf einen Durchbruch hofft, den freien Blick – wenn schon nicht über den Berg, so doch durch ihn hindurch.

„Ich bin alles, was ist, was war, und was seyn wird, kein sterblicher Mensch hat meinen Schleyer aufgehoben“, diese Zeile aus Schillers Essay „Die Sendung Mose“ schrieb Beethoven ab und rahmte sie unter Glas. Für Assmann lässt dieser Fund nicht nur keinen Zweifel daran, dass der Komponist ein religiös denkender Mensch war. Er führt ihn auch weiter zu einem Beethoven, der in der Missa Solemnis als elementarer Textarbeiter zu entdecken ist.

Er orientiert sich „am Leitfaden des Textes und folgt nicht der musikalischen Logik der Progression, das heißt thematischer Arbeit. Nicht die musikalischen Themen, die es zu entwickeln gilt, geben ihm den Weg vor, sondern der Text, den es in allen semantischen, das heißt theologischen Nuancen auszuleuchten gilt. Das bedeutet, dass er diskontinuierlich, ja zuweilen disruptiv vorgeht und statt auf Progression auf Ereignis setzt.“

Die musikalischen Ausrufezeichen zu entdecken, mit denen Beethoven den Messtext verwandelt, darin liegt, neben einer Auffrischung im christlichen Kultus, der Gewinn von Assmanns Buch. Die Missa Solemnis gipfelt in einer Beschwörung des ewigen Lebens. Oder wie es der Rundfunkchor für seine Performance liest: „The World to Come“.

Jan Assmann: Kult und Kunst. Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst. Verlag C.H. Beck, München 2020. 272 Seiten, 28 €.

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