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Barrie Kosky.

© Daniel Karmann/dpa

Barrie Koskys „On Ecstasy“: Ein Künstlererwachen zwischen Bergen von Exkrementen

In „On Ecstasy“ erzählt Barrie Kosky mit lässigem Witz von seiner frühen Begeisterung für Operetten. Die Lektüre ist ein großes Glück.

Vor dem Sinnesrausch, dem großen Taumel, kann eine peinigende Zeit des Wartens liegen. Barrie Kosky weiß das schon sehr früh, denn die Zubereitung der Hühnersuppe seiner polnischen Großmutter Leah dauert nicht weniger als 24 Stunden. Erst dann darf er das goldene Elixier endlich kosten: „Der erste Löffel, mit dem die heiße Suppe meinen Mund flutete und meine Kehle hinabrann, war tiefe, metaphysische Verzückung.“

Mit dieser Erinnerung an seine Kindheit in Melbourne beginnt Kosky sein Bändchen „On Ecstasy“, das, ursprünglich 2007 verfasst, nun auf Deutsch erschienen ist (Theater der Zeit, 104 Seiten, 15 Euro). Darin folgt er dem Gefühl des Außersichgeratens vom Suppentopf zum TV-Rendezvous mit der Lieblingsserie, die im Vorspann verlässlich die nassen, engen Jeans eines Jungen zeigt: „Ich saß da im Schneidersitz, ein Brille tragender, sieben Jahre alter Junge in Schuluniform, hielt den Atem an und sank mit einem Gefühl von pochender, wohliger Übelkeit in den Flokati.“ Kosky bemerkt schnell, dass der Jeansboy ihn langweilt, die Hexe in der Serie aber niemals. Auf dem Besen fliegen und tanzen, erscheint ihm interessanter als ein strammer Po.

Kosky erzählt mit lässigem Witz von den Kindertagen eines Theaterbesessenen zwischen polnischer und ungarischer Großmutter, Hühnersuppe und Klassikschallplatten. Das Bild, das dabei entsteht, erinnert an Woody Allens Alter Ego, das in „Der Stadtneurotiker“ in Brooklyn unter den Erschütterungen einer Achterbahn heranwächst.

Kosky streicht durch das Pelzlager seines Vaters, mit 15 entdeckt er Gustav Mahler für sich, den Trauermarsch der 1. Symphonie wird er später als Untermalung für den Mord in seiner „Woyzeck“-Inszenierung einsetzen. Mit Essstäbchen dirigiert er ganze Nachmittage hindurch und erlebt Ekstase mit dem sich verströmenden Mahler-Interpreten Leonard Bernstein: „Ich hatte nie zuvor einen Körper gesehen, der so zerrissen war zwischen Qual, Freude und Leidenschaft.“

Diesen ersten, die Welt auf den Kopf stellenden Rauschzuständen wäre man gerne weiter gefolgt, doch Kosky schreibt keine Autobiografie, er setzt Schlaglichter und biegt abrupt zu Artauds „Theater der Grausamkeit“ ab. Die Mittel werden heftiger, die Bühnen größer, die Sehnsucht bleibt.

Etwas brach sich Bahn

„Berge von Exkrementen, sterbende hermaphroditische Meerjungfrauen und ein Bariton auf einer Toilette, der Ligeti aus einem von Scheiße verschmierten Mund singt, mag nicht den Erwartungen an eine klassische Abo-Vorstellung entsprechen, aber etwas passierte in diesem Moment im Theater“, erinnert sich Kosky an seine Inszenierung von „Le Grand Macabre“ an der Komischen Oper. „Etwas entstand. Etwas brach sich Bahn.“

„On Ecstasy“ handelt von der Droge Theater, von Wagners abgründigem Reich der Phantasmagorien und im nachgelegten Interview auch von der wiederbelebten Berliner Operetten-Ekstase. Aktuell würde er über das Lachen schreiben, in zehn Jahren dann über Melancholie, sagt Kosky. Das flüchtige Glück dieser Lektüre verrät, dass er dafür wohl keine Zeit finden wird.

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