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Körperkultur in allen Varianten. Peter Rühring (l.) als George, Fausto Israel als Butler Jacob (M.) und Hannes Fischer als Albin.

© Bresadola/drama-berlin.de

Bar jeder Vernunft: In der Liebe sind wir alle Narren

Das Musical „La Cage aux Folles“ in der Bar jeder Vernunft hat das Zeug zum Kultstück. Und ist erschreckend aktuell, etwa vor dem Hintergrund der Diskrimierung Homosexueller in Russland. .

Auch Kritiker können irren. „Jerry Hermanns Musik ist nicht gerade mit hitverdächtigen Ohrwürmern gesegnet“, schimpfte Hellmut Kotschenreuther im Oktober 1985 im Tagesspiegel nach der europäischen Erstaufführung von „La Cage aux Folles“ am Theater des Westens. Wie bitte? „I am what I am“, die Schlüsselnummer des Musicals, wurde zur Disco-Hymne. Auch die übrigen Nummern der Show funktionieren noch prächtig. Schwungvolle Melodien, die ihren Komponisten als letzten großen Meister der Musical Comedy ausweisen.

Kurz nach „La Cage aux Folles“ kam Andrew Lloyd Webbers „Phantom der Oper“ und leitete den Umschwung der Gattung ein – weg von Unterhaltung mit Tanz und Pointen hin zum Melodramatischen. Zwischen „Elisabeth“ und „Evita“, dem „Glöckner von Notre-Dame“ und all den anderen „Misérables“ mag „La Cage aux Folles“ wie eine zerzauste Federboa wirken. Doch das Stück hat noch Kraft, Berechtigung – und Aktualität, wie die umjubelte Neuinszenierung in der Bar jeder Vernunft beweist.

„La Cage aux Folles“ erzählt vor dem Hintergrund der glitzernden Nachtclubszene in Saint-Tropez vom Schwulsein: Georges, der Besitzer des Travestie-Lokals „La Cage aux Folles“, lebt seit Jahrzehnten mit dem Transvestiten Albin zusammen. Gemeinsam haben sie ein Kind großgezogen: Jean-Michel ist die Frucht eines One-Night-Stands von George mit einer Revuetänzerin, die dem Vater aus Karrieregründen das Kind überließ.

Männer in Frauenkleidern: Uraufgeführt wurde das Stück 1973 - und machte Furore

Mit 20 Jahren will dieser Jean-Michel plötzlich heiraten. Eine Frau! Vor allem Albin hält Anne, die Auserwählte, für eine Gemeinheit. Doch es kommt noch schlimmer: Die Schwiegereltern in spe sind erzkonservative Sittenwächter. Als der Sohn verlangt, dass für ein Treffen nicht nur aller Tunten-Trash aus der Wohnung verschwinden soll, sondern auch seine männliche Ziehmutter, kommt es zur Familienkrise.

1972 hat Charles Aznavour mit „Comme ils disent“ das erste Chanson über einen Mann gewagt, der sich nachts in Frauenkleidern zeigt. Ein Jahr später wurde Jean Poirets „La Cage aux Folles“ am Pariser Palais Royal uraufgeführt und erreichte dort 2467 Vorstellungen. Die Filmversion, die Edouard Moliaro 1978 draus machte, wurde eine schwer erträgliche Klamotte. Harvey Fiersteins Musical aber, 1983 am Broadway herausgekommen, hat Tiefgang. Wenn die Regie die Ruhepunkte zu nutzen weiß, die der Komponist den Protagonisten durch die Musiknummern verschafft.

„Als wir vor zwei Jahren mit der Planung begannen, konnten wir nicht ahnen, was für eine erschreckende Brisanz das Stück bekommen würde“, sagt Bar-Chef Holger Klotzbach am Samstag bei der Begrüßung der Premierengäste. Putins Gesetzgebung, die Diskussion ums Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare, Diskriminierung – auch wenn das aus Berliner Perspektive anders erscheinen mag: Homosexualität ist noch lange nicht gesellschaftlich akzeptiert.

Das Ringen um Gleichberechtigung geht weiter. Und es ist klug, sich dabei der Mittel des Boulevardtheaters zu bedienen. Volkstümliche Unterhaltungsstätten nämlich leisten einen chronisch unterschätzten Beitrag zum Fortschritt. Weil sie ihr Publikum zur Toleranz erziehen, über den Umweg des Lachens. Im Idealfall erwächst aus dem voyeuristischen Blick in der schützenden Dunkelheit des Zuschauerraums im Alltag dann Verständnis für die Außenseiter.

Überkandidelte Kostüme - und die Kunst des Weglassens

Selten lernt man diese Lektion so lustvoll wie jetzt. In der drangvollen Enge des Spiegelzelts ergibt sich die aufgeheizte Nachtclub-Stimmung von allein. Wer hier mehr am Körper trägt als unbedingt nötig, ist selber schuld. Platz für schauspielerische Aktionen aber gibt es eigentlich nicht. Wie Friedrich Eggert dem Rundraum dennoch ein vollwertiges Bühnenbild abringt, darf man genialisch nennen. Aus Palmenstämmen wachsen zwei Karyatiden mit mächtigen Gemächten heraus. Waschbrettbauch-Beaus in Goldbronze, die sich mit Lendenschurz und ein paar Pfeilen flugs zu Heiligen Sebastins umfunktionieren lassen, um Anne und ihren Spießereltern eine heile katholische Welt vorgaukeln zu können. In der Restaurantszene schwebt eine gedeckte Tafel vom Bühnenhimmel herab, für den Strandausflug von George und Albin wird ein Tretboot in Schwanenform zusammengesteckt. Im Übrigen genügen drei verschiedenfarbige Vorhänge, um die Szenen vor und hinter den Kulissen des „La Cage aux Folles“ anzudeuten.

Falk Bauer führt mit seinen überkandidelten Kostümen die Modeverirrungen der sechziger bis achtziger Jahre vor und zelebriert im Übrigen die Kunst des Weglassens. So wie auch der musikalische Leiter Jo Roloff, der Jerry Hermanns Orchester virtuos auf seine Fünf-Mann-Band eingedampft hat.

Das knappe Retro-Soundkostüm mit Hammondorgel und Glockenspiel passt der Partitur wie angegossen. In der Abräumerrolle der Kammerzofe Jacob lässt sich Fausto Israel keine Gelegenheit zum Overacting entgehen, die aus Platzgründen zum Quartett optimierte Transentänzertruppe (Andreas Swoboda, Christoph Jonas, Vanni Viscusi und Hakan Aslan) lässt in Otto Pichlers anziehend anzüglichen Choreografien Beine und falsche Zöpfe fliegen.

Ganz bewusst wollte Regisseur Bernd Mottl reife Herren für Albin und George: Hanns Fischer ist 66 Jahre alt, Peter Rührig 71. Wenn sie die Vertrautheit eines Paares zeigen, das seit 30 Jahren in tiefer, ehrlicher Liebe verbunden ist, wirkt das unmittelbar anrührend. Beide sind gestandene Sprechtheatermänner, alles Musicalmäßige geht ihnen ab. Dass sie stimmlich keine Knaller sind, fällt nicht ins Gewicht – weil sie die Gefühle hinter den Worten glaubhaft machen können und Charaktere entstehen lassen. Im Rahmen einer ganz auf szenische Rasanz angelegten Show ist das sehr viel.

Musicalproduktionen sind für die Macher der Bar mit einem enormen finanziellen Risiko verbunden. Weshalb sie bislang auch erst zwei Großproduktionen gewagt haben: 1994 das „Weiße Rössl“, grandios besetzt und unvergessen, sowie zehn Jahre später „Cabaret“, das in der geschmeidigen Version von Vincent Paterson zum Sommerloch-Dauerbrenner avancierte und auch in diesem Juli wieder laufen wird.

Am Samstag dürfte den Verantwortlichen so mancher Strassstein vom Herzen gefallen sein. Bernd Mottls Neudeutung kann es mit Helmut Baumann legendärer Erstaufführung am Theater des Westens aufnehmen. Um es mit den Worten von Hellmut Kotschenreuters Tagesspiegel-Kritik zu sagen: „Der Schlussbeifall war enorm und wollte lange nicht enden. Er galt einer Aufführung, der man Weltstadtniveau attestieren darf, ohne sich einer lokalpatriotischen Übertreibung schuldig machen zu müssen.“

Bar jeder Vernunft, bis 31. Mai

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