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Die Erzählerin. Lana Lux lebt seit zehn Jahren in Berlin und arbeitet gerade an ihrem dritten Manuskript.

© Joachim Gern

Autorin Lana Lux über ihr Jüdischsein: „Meine Erinnerung ist meine Heimat“

Für die Schriftstellerin Lana Lux ist Ankommen in der Fremde ein leitendes Thema – auch in ihrem eigenen Leben.

Ihr Leben böte Stoff für einen Film. Lana Lux schreibt lieber Bücher. Zwar sind es keine Memoiren – sie sucht sich ein viel größeres Terrain. Ein wiederkehrendes Motiv durchzieht ihre Romane dennoch wie ein roter Faden: die Suche nach einer äußeren wie inneren Heimat. In ihrem Debüt „Kukolka“, 2017 erschienen, ist es das ukrainische Heimkind Samira, das sich nichts sehnlicher wünscht, als nach Deutschland zu gelangen, ihr Traumziel. Im neuen Buch „Sammlerin und Jägerin“ [Aufbau Verlag, Berlin 2020, 3024 Seiten, 20 €] sind es die bulimiekranke Alissa und ihre Mutter Tanja, die mit der Welt und der eigenen Identität hadern.

In beiden Romanen schimmern autobiografische Details durch die Zeilen: die Ukraine der 1990er Jahre, das Ankommen in der Fremde – und das Jüdischsein. Um das tragische Schicksal der Protagonistinnen zu beschreiben, wählt die Schriftstellerin eine nüchterne, eindringliche Sprache.

Ähnlich unbefangen erzählt sie ihre persönliche Lebensgeschichte, die 1986 im ukrainischen Dnipropetrowsk ihren Anfang nimmt. „Wir waren die Ärmsten der Armen. Uns ging’s einfach verdammt schlecht“, sagt Lux und schlürft an einem Flat white mit Mandelmilch. Man ist von ihrer offenen Art sofort eingenommen, auch wenn sie das vereinbarte Treffen in Charlottenburg anfangs vergisst und zu spät kommt – was ihr sonst nie passiere!

Wer ist hier die Jüdin?

Kein Strom, kein Gas, keine Perspektive: Das Leben in der Ukraine war hart, erzählt sie. Weder Mutter, Ingenieurin, noch Vater, Fotograf, hatten einen Unternehmergeist. Und als wäre das Elend nicht schon schlimm genug gewesen, erfuhr Lana im Kindergarten Schreckliches: Ein Mädchen wollte nicht mit ihr spielen, weil sie Jüdin sei. „Wer ist hier die Jüdin?“, rebellierte die Fünfjährige.

„Das Mädchen hieß Ženja. Wir haben uns geprügelt. Es war Sommer, ich weiß noch ganz genau, was ich anhatte“, erzählt Lux. Dann rannte sie weinend nach Hause. „Sind wir Russen oder Ukrainer?, wollte sie von ihren Eltern wissen. Es gab für sie nur diese zwei Optionen. Doch plötzlich war da noch „etwas Drittes“.

Danach war ihr vieles klar geworden: das Herumdrucksen und warum der Vater nicht wollte, dass Oma ihr Lieder auf Jiddisch beibrächte. Er hatte Angst, sie würde später kein vernünftiges Russisch mehr reden. Ihre Oma war, wie Lana Lux sagt, „eine leuchtende, witzige und sehr ungebildete Frau“. Sie habe sie abgöttisch geliebt. Alle hätten sie geliebt. Sie war es auch, die nach dem jüdischen Kalender lebte und die Tradition am Leben hielt. Bei den Festen stand allerdings mehr das Essen als die Religion im Mittelpunkt. Koscher aßen sie nicht.

Plötzlich waren sie nicht jüdisch genug

In der Ukraine wurden sie von außen stets als Juden definiert. Das stand auch in ihrem Pass. Die Frage, woran sie ihr Jüdischsein festmachten, kam erst in Deutschland auf. Hier waren sie, nach all dem, was sie erlitten hatten, auf einmal nicht jüdisch genug. Ihre Eltern wollten am Schabbat keine drei Stunden in der Synagoge einem Gebet beiwohnen, das sie nicht verstanden. „Sie wollten zum Flohmarkt, Sachen besorgen“, erzählt Lana Lux. Sie kann sich noch gut daran erinnern, als sie die Ausreise planten.

Eigentlich wollten sie nach Israel auswandern. Der Vater hatte schon als Kind davon geträumt, hatte immer diese Fantasie von einem Zuhause. Er fuhr voraus – und war begeistert. Er schwärmte von den Palmen und von den vielen Farben, als würde er von einem Schwarzweiß- in einen Buntfilm kommen. Nach einer Woche und vielen Gesprächen mit Verwandten und Auswanderern rief er noch mal an. Die Frauen – Mutter, Tochter, Oma und ihre Schwester saßen gleichsam auf gepackten Koffern, die Flugtickets waren besorgt. In fünf Tagen hätte ihre Reise starten sollen.

Israel: keine Spur von Zuhause

Weil er sich kein Ferngespräch leisten konnte, schloss sich der Vater auf dem Dach eines Wohnhauses an eine fremde Leitung an. „Ihr kommt nicht“, beschied er am Telefon, komplett desillusioniert von den Aussichten, die sich dort für die Familie darstellten. In Israel war er kein Jude, sondern ein Russe. Keine Spur von Zuhause: Die Kindheitsfantasie zerbrach. Am anderen Ende der Leitung fiel die Mutter in Ohnmacht – eine filmreife Szene.

Nach zwei Jahren in Israel kam der Vater mit Dollars zurück, von denen die Familie sehr lange, sehr arm leben sollte. Dann hörten sie über Mundpropaganda Geschichten über Deutschland.

1996 kam Lana Lux im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie als Kontingentflüchtling in Nordrhein-Westfalen an. Doch sie blieben nur kurz im Auffangcamp. „Lange waren dort nur Leute, die sich eine schöne Stadt wie München gewünscht haben“, sagt Lux. Ihre Eltern wollten nach Gelsenkirchen. Das war kein Problem. Die Familie hörte, dass die Flüchtlingsunterkünfte dort gut seien. Das war ein wichtiges Kriterium.

Die Schule war Horror

Kurz darauf folgten dann Enttäuschungen. In der Schule kam Lana Lux mit Gleichaltrigen lange nicht zurecht. Sie waren alle mit zehn noch Kinder. „Meine Kindheit aber war längst vorbei“, sagt sie. Die Lehrer mochten sie nicht. Mehr als einen Hauptschulabschluss würde sie nie schaffen, hörte Lana von ihnen.

Jetzt wird sie in der Literaturszene gefeiert. Und zuckt jedes Mal zusammen, wenn sie die Wohlfühl-Integrationsmythen hört von Kids, die ganz von allein Deutsch aufschnappen: Wer akzentfrei sprechen möchte, müsse verdammt viel Mühe investieren. Das gilt auch fürs Schreiben.

Lana Lux wollte Schauspielerin werden. Lernte nach ihrem Studium der Ernährungswissenschaften am Michael-Tschechow-Studio in Berlin. Dann wurde sie schwanger und realisierte vor fünf Jahren im Rahmen eines Theaterprojekts eine Performance über Religion. Ein Jahr lang hielt sie Schabbat, schrieb darüber einen Blog: 52 Schabbatot – und eroberte sich damit ein Stück Tradition zurück.

„Meine Erinnerung ist meine Heimat“

Heute bestimmt der jüdische Kalender ihren Alltag. Auch ihrer Tochter möchte sie das Gemeinschaftsgefühl vermitteln und investiere deshalb bewusst viel Energie in die Erziehung. „Jüdischsein ist der Kern unserer Familiengeschichte. Ich will nicht, dass es mit mir abreißt“, sagt die 34-Jährige, die das Fest Jom Kippur besonders schätzt. „Ich nehme diesen Tag zum Anlass, mich auf die Werte zu besinnen, die ich wirklich leben möchte.“

Sich und die Welt zu hinterfragen, sei etwas sehr Jüdisches, sagt Lana Lux. Dennoch würde sie sich nicht als religiös bezeichnen. Von den vielen Strömungen des Judentums fühle sie sich bei den Masorti-Juden wohl, einer konservativen Ausrichtung zwischen Liberalen und Orthodoxen, wo auch Mädchen und Frauen vorbeten dürfen. Gleichberechtigung sei für sie ein zentraler Wert. Ihr höchstes Ziel: möglichst gewaltfrei zu leben und die Welt zumindest nicht schlechter zu hinterlassen, als sie sie vorgefunden habe. Darin spiegelt sich vor allem die jüdische Grundhaltung „Tikkun Olam“ wider als Arbeit an der Verbesserung der Welt.

Mit dem perfekten Lidstrich und ihren bunten Tätowierungen entspricht Lana Lux nicht gerade dem Klischee einer Jüdin. Zwei große Seepferdchen auf ihren Armen haben eine tiefere Bedeutung. Nach ihnen werde der Hippocampus benannt, der Teil des Gehirns, der Erlebnisse sammelt. „Meine Erinnerung ist meine Heimat“, sagt Lana Lux. „Sie ist so riesig und detailliert, dass ich sie durchwandern kann.“

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