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Liebesbekenntnis mit stilistischen Ambitionen. Postkarte an Beckers Frau Christine.

© Suhrkamp

Autor von „Jakob der Lügner“: Die Postkartenkunst des Schriftstellers Jurek Becker

Geschichten eines Lebens: Der Band „Am Strand von Bochum ist allerhand los“ versammelt die bittersüße Autobiografie des Schriftstellers Jurek Becker – in seinen liebevollen Postkarten.

Was „Jakob der Lügner“ mit den Postkarten Jurek Beckers zu tun hat? Diese Frage leuchtet nicht unmittelbar ein, auch wenn der legendäre Roman wie die Karten vom selben Autor stammen. Ein Band mit Postkarten Beckers gibt uns nun die Chance zu prüfen, was dran ist an dieser Frage.

Christine Becker, die seit 1986 mit Becker verheiratet war, hat ihr privates Archiv gesichtet und Freunde sowie Weggefährten Beckers dazu bewegt, zu einem umfangreichen Nachlassband beizutragen. Der Titel ist Programm für die fast 400 chronologisch sortierten Seiten: „Am Strand von Bochum ist allerhand los“. Das deutet auf Postkartiges, Dramatisches und Fantastisches, und zwar von 1978 bis kurz vor Beckers Tod im Jahre 1997. Manfred Krug hat bereits früh erkannt, dass sein Freund Jurek nur auf den ersten Blick „persönliche Postkarten“ schrieb, und auf ihre poetische Strahlkraft hingewiesen. „In Wahrheit sind es Kunstwerke“, so Krug.

In der Tat gibt es Anzeichen dafür, dass im kleinen Format dieselben künstlerischen Gesetze am Werk sind wie bei den großen Romanen. Bereits Anreden wie „Du liebe Knalltüte“, „Sehr geehrter Bratklops“ oder „Du alter Kostenvoranschlag“ stellen einen vertraulich-tollkomischen Ton her und deuten an, dass hier mehr zu lesen ist als Standardgrüße von anderswo.

Rückseite der Postkarte an Beckers Frau Christine.
Rückseite der Postkarte an Beckers Frau Christine.

© Suhrkamp

So auch bei einer Karte an Ottilie und Manfred Krug vom 18. April 1980. Hier bringt Becker das Reiseland und seine eigene Befindlichkeit in wenigen Worten auf den Punkt. Kanada wirke auf Becker, „als wäre eine DDR-Firma beauftragt worden, USA-Verhältnisse hier einzuführen. Das macht es mir leicht, mich gut zu fühlen.“

Reisen in die Fremde waren für den DDR-Bürger Jurek Becker (1937–1997) lange nicht selbstverständlich. Er kam in Lodz zur Welt, überstand Ghetto und Konzentrationslager und lebte nach dem Krieg in Ost-Berlin, wo er sich als Schriftsteller zunehmend unwohler fühlte. 1977 bekam er ein Visum für die Ausreise aus der DDR, das jedoch kein Einwegticket war.

Seitdem lebte er als Grenzgänger zwischen beiden Teilen der Stadt und bereiste gern die übrige Welt, was zu so mancher Karte an die Liebsten führte. Die nahezu tausend überlieferten Karten richten sich im Vergleich zu den Briefen Beckers nur an wenige Empfänger. Allein drei Viertel dieser Post gehen an seinen jüngsten Sohn Jonathan („Johnny“), seine Frau Christine sowie an den Schauspieler Manfred Krug und seine Frau Ottilie. Wie bei seinen literarischen Texten entwirft Becker die Postkartentexte vorab und trägt sie in Schulhefte ein.

Auf manche Karten passt eine ganze Geschichte

Die Motive der Postkarten sind Jurek Becker sehr wichtig, und er wählt vor allem solche aus, die allein bildlich oder gemeinsam mit dem Text komisch wirken. Becker geht deshalb häufig mit Postkarten auf Reisen, damit er nicht auf das Angebot vor Ort angewiesen ist. So zeigt eine seiner Karten eine Art Schulklasse, in der jeder Schüler eine Gasmaske trägt.

Was auf der Karte wirklich zu sehen ist, verrät Becker seinem Sohn Lonni. Es handele sich um eine Becker-Lesung in Kopenhagen, bei der eine Gasleitung zerborsten sei und zum Glück niemand Schaden genommen habe. „In Dänemark ist alles toll organsiert“, schreibt Becker, „das Resultat siehst du vorne auf dem Bild.“ Genau diesen Humor lieben Familie, Freunde und Bekannte, und sie mögen es, wenn Jurek etwas zu ihrer Postkartensammlung beiträgt.

Jede Karte bekommt in dem Band ein Blatt, meist sind Vorder- oder Rückseite inklusive gedruckter Umschrift zu sehen. Auch wenn Beckers Schreibschrift gut lesbar ist, hilft dies in Zweifelsfällen. Auf manche Karte passt sogar eine ganze Geschichte. Burgel Zeeh, Chefsekretärin bei Beckers Verlag Suhrkamp, bekommt so eine, auf der ihr der Autor die Wahrheit über Hawaii verrät. Laut Becker gibt es dort keine Vulkane. „Die glühende Lava, die man auf Postkarten sieht, ist dort reinretouschiert“, schreibt Becker, „und für die Touristen, die nicht näher als 300 m an die Kraterränder randürfen, werden von arbeitslosen Hawaiianern Unmengen von Räucherstäbchen abgebrannt.“

Welt der schrägen Möglichkeiten

Becker nutzt für solche Reiseführer im Miniformat generell verbürgte Bausteine der Wirklichkeit, um mit ihnen eine zweite Wirklichkeit zu errichten: eine Welt der (mehr oder minder schrägen) Möglichkeiten. Was ebenfalls den Literaturverdacht erhärtet: Beckers Post an Menschen, die nicht in der Ferne sind, sondern, wie zum Beispiel seine Frau Christine, mit ihm gemeinsam den Urlaub verbringen.

„Etwas debil“ sei es schon, wenn seine Frau mit ihm nach Bergen reise und ihr Mann jeden Tag eine Karte an sie schreibe. „Aber oft genug haben wir schon die Erfahrung machen dürfen, dass gerade ein Schuss Debilität unserem Leben die rechte Würze gibt. Oder die linke Schnürze.“

Beckers Schreiben umarmt den Leser gleichsam, es verbreitet Wärme und stellt trotz aller Komik eine Nähe her, die Mitfreuen und Mitleiden möglich macht – weil Becker verknappt und Freiräume schafft fürs Ausdeuten und fürs Gefühl. Diese Verknappung treibt Becker auf einer Karte gar bis zum privaten Code, der (vermutlich) nur von einem einzigen Empfänger entschlüsselt werden kann. Sein Freund Helge Braune, der auf weitschweifiges Erzählen auf Karten keinen großen Wert legt, bekommt folgende geheimnisvolle Nachricht: „Lieber Helge, D. W. i. g., u. e. g. u. p. D. J. P.s.: G. b. E.“ Das ist Literatur als Rätsel und Spiel mit Erwartungen.

Ein Ton zwischen Lachen und Weinen

Lakonisch, wie Beckers „Jakob“-Roman auf das Ende der Juden in einem Ghetto blickt, so blicken auch seine Karten der letzten Lebensmonate auf ein Finale, das sich nicht abwenden lässt, und zwar in einem Ton, der zwischen Lachen und Weinen changiert. Jurek Becker war an Krebs erkrankt und schien zu wissen, dass seine verbleibende Lebenszeit absehbar war.

Die Krankheit verhindert bei Becker jedoch keineswegs Humor im Endstadium, und damit kommt er seiner Poetik von „Jakob der Lügner“ sehr nah. Das zeigt Beckers Post aus dem Berliner Virchow-Krankenhaus. Patient Becker bekommt ein falsches Essen, skandalöserweise M 2 statt M 3, und hat darüber einen Disput mit einer Krankenschwester. „Wenn der Unterschied zwischen Möhreneintopf und Putenschnitzel nicht mehr zählt“, so sein Kommentar, „woran soll man sich denn da noch halten!“

Auf diese Weise erzählen Jurek Beckers Postkarten die Geschichte seines Lebens. Diese Karten sind folglich nichts anderes als die geheime, bittersüße Autobiografie eines Autors, der mit wahren Lügen das Sein im Schein leuchten lässt. Hier schließt sich der Kreis zu seinem Debütroman.

Jurek Becker: „Am Strand von Bochum ist allerhand los“. Postkarten. Hg. von Christine Becker. Suhrkamp, Berlin 2018. 400 Seiten, 32 €.

Olaf Kutzmutz

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