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Welche Sehnsucht. Amor und Psyche, 1793 gestaltet von dem klassizistischen italienischen Bildhauer Antonio Canova.

© Wikicommons

Autofiktion: Der Traum des Begehrens von der Seele

Zwischen Schwulenbar und griechischer Antike: Daniel Mendelsohn geht sich auf den Grund.

Von Gregor Dotzauer

Menschen lieben klare Verhältnisse. Sie verurteilen Widersprüche, sie vermeiden Unentschiedenheit, und sie misstrauen Ambivalenzen. In der Welt der Moral beharren sie, wo immer es geht, auf einem Entweder-Oder und in der Welt der Tatsachen, ganz zurecht, auf einem Wahr oder Falsch. Eindeutiges aller Art erleichtert nicht nur das Auskommen mit anderen, sondern auch den Umgang mit sich selbst. Wer den Zwiespalt bevorzugt, begibt sich in Teufels Küche.

Das Problem ist nur, dass manche darin zu Hause sind – und das vielleicht sogar gerne. Es sind nicht die Schizophrenen, die nicht anders können, oder die Verlogenen, die ein Doppelleben führen wollen. Es sind Menschen, die die Realität nicht verleugnen, sondern eine komplexe Wirklichkeit anerkennen. Menschen wie Daniel Mendelsohn, die wissen, dass es sehr wohl möglich ist, zwischen verschiedenen Lebensformen zu pendeln. „Man findet die Räume dazwischen“, schreibt er in seinem Buch „Flüchtige Umarmung“, „und man lebt.“

[Daniel Mendelsohn: Flüchtige Umarmung. Von der Sehnsucht und der Suche nach Identität. Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld. Mit einem Vorwort von Carolin Emcke.Siedler Verlag München 2021. 255 S., 26 €.]

So lebt er mal nördlich von Chelsea, dem Zentrum der New Yorker Schwulenkultur, und zieht als teilnehmender Beobachter durch die Bars. Mal lebt er Upstate, unweit des Bard College, wo er Altphilologie lehrt, in Gesellschaft einer Patchwork-Familie, in die ihn eine Freundin schon vor der Geburt ihres Sohnes als Ziehvater eingeladen hat – eine Rolle, die ihn mehr und mehr auszufüllen beginnt.

Jüdisch und queer

Daniel Mendelsohn, 1960 in New York geboren, gehört zu den bekanntesten amerikanischen Stimmen seiner Generation. Als Editor-in-Large der „New York Review of Books“ hat er publizistisches Gewicht, und als Autor zweier vielfach ausgezeichneter Bücher, des Holocaust-Memoirs „Die Verlorenen“ und der Autofiktion „Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich“ genießt er sogar internationalen Ruhm.

Sein Debüt „Flüchtige Umarmung“ erreicht das deutsche Publikum mit einer Verspätung von mehr als 20 Jahren. Doch die analytische Scharfsicht, mit der er hier den Schichten seiner queeren jüdischen Identität nachforscht, ist nicht nur frisch geblieben. Als frühestes Beispiel seiner Erzähltechnik, die er im neuen Nachwort als „Verknüpfung eines persönlichen und Familiennarrativs mit philologischen Exegesen alter Texte“ beschreibt, zeigt das Buch auch modellhaft, wie die sprachliche Struktur des Altgriechischen sein Empfinden prägte.

Schon auf dem Umschlag begegnet man Antonio Canovas Skulpturen von Amor und Psyche, „Begehren und Seele“, wie sie im Louvre zu sehen sind, Figuren, „die sich umarmen wollen und daran scheitern“. Er interpretiert, nachdem man ihn bei seinen ersten Cruises durch Chelsea begleitet hat, den Ovidschen Mythos von Echo und Narziss. Und er entdeckt in einem Liebesgedicht von Sappho, das Catull ins Lateinische übersetzt hat, voyeuristische Züge.

Die zu Grunde liegenden, nur bedingt auf Versöhnung angelegten Gegensätze, findet er in „men“ und „de“, zwei unscheinbaren Partikeln des Altgriechischen, die überdies die ersten Buchstaben seines Nachnamens bilden: „Zu Beginn des Griechischstudiums soll man das erste der beiden mit ,einerseits’, das zweite mit ,andererseits’ übersetzen, wobei beide für sich genommen eigentlich nichts bedeuten; sie fügen einem Satz lediglich Aroma und Struktur hinzu.“

Dialektische Schwingungen

„Men“ und „de“, das werden die beiden Silben, in der Mendelsohns Denken seine dialektischen Schwingungen entfaltet: „Die Welt men, in die man hineingeboren wurde, die Welt de, die man sich zum Leben aussucht. Dein jüdisches men Erbe, streng und doch fruchtbar, sexlos (für dich), da heterosexuell, dennoch aus demselben Grunde zeugungsfähig, sich fortpflanzend, produktiv; die Leidenschaft de fürs klassische Griechenland (…) Dein Verlangen men nach Liebe, Stabilität, etwas wie Familie; der Drang de zur Lust, zu der schwindelerregenden Schönheit jener Lüste, die keinen anderen Sinn haben als ihre eigene kunstreiche Erfüllung.“

Fünf Kapitel hindurch balanciert Mendelsohn zwischen den Polen von Erzählen und Reflektieren, herzerwärmenden Anekdoten vom sexuellen Erwachen und einer mitleidlosen Ethnografie schwulen Lebens, einer Expedition ins Dunkel seiner Familiengeschichte und dem Abenteuer einer Kleinfamilie, die ihn die Liebe zu einem Kind lehrt, das nicht sein leibliches ist.

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Der Höhepunkt bei alledem ist der Versuch, entlang von Sophokles’ „Antigone“ ein Familiengeheimnis zu lüften, das Ray oder Rachel, die 1923 im Alter von nur 26 Jahren verstorbene Schwester seines Großvaters, umgibt. Eine junge Frau von rätselhafter Schönheit, die aus dem erst ukrainischen, dann polnischen Bolechow in die USA gekommen war, um dort einen Cousin zu heiraten, doch als Jungfrau begraben wurde.

Wie Mendelsohn das Gespinst von regelrechten Lügen, familiär überlieferten Halbwahrheiten und einer Art höherer Wahrheit mit Hilfe von Recherche, Imagination und Interpretation durchdringt, ist ein hermeneutisches Detektivspiel voller überraschender Wendungen. Es sät nicht den geringsten Zweifel, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, diese aber durchaus mehrere Seiten hat, die man erst einmal miteinander in Einklang bringen muss.

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