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Ausstellungen: Gewinner und Flanierer

So weit die Füße tragen: Eine Berliner Ausstellung widmet sich dem Spazierengehen

Zum Boulevard hatte Martin Schmitz eigentlich immer ein gutes Verhältnis. Bis ihn vor ein paar Jahren die Universität Kassel bat, eine Vorlesungsreihe über sein Fachgebiet zu halten: die „Promenadologie“, die Wissenschaft des Spazierengehens. Davon bekam die Presse Wind, und als ein Journalist die Vorlesungsreihe dann auch noch zur Professur aufblies, war der Skandal perfekt: Prompt schlugen „Bild“ & Co. Alarm, prompt trat, man verzeihe das schiefe Bild, der Boulevard den Flaneur mit Füßen. Unsere Steuergelder! Für einen Spaziergangswissenschaftler! Ja, bekommt denn in diesem Land jede dahergelaufene Promenadenmischung einen Lehrstuhl?

Dass das Spazierengehen, diese Extremsportart des Müßiggangs, etwas Empörendes, gar Subversives haben kann, war Schmitz natürlich schon vor dem Kasseler Vorfall bewusst. Wer langsamer geht als die anderen, erregt automatisch öffentlichen Neid – auch, weil er mit seinem Tun ökonomische Grundregeln unterläuft: Spazierengehen ist schließlich das billigste aller Vergnügen, ist immer umsonst und draußen. Wer sehenden Auges durch Städte und Landschaften flaniert, der eignet sich seine Umgebung an, ohne dafür zu bezahlen, der macht sich zum ästhetischen Dieb – wobei der Augenraub, im Gegensatz zum Mundraub, auch noch ungeahndet bleibt.

Trotz dieser Regelwidrigkeiten wurde dem Spazierengehen schon seit seiner Erfindung (die in etwa mit der Entstehung einer beschäftigungslosen, also professionell müßiggängerischen Aristokratenklasse zusammenfallen dürfte) heilsame Wirkung zugeschrieben. „Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge“, befand Johann Gottfried Seume schon 1806. Und Lucius Burckhardt, Deutschlands prominentester Promenadologe und Martin Schmitz’ großer Mentor, erhob das Spazierengehen gar in den Stand einer Wissenschaft: Der in der Schweiz geborene Stadtforscher und Soziologe plädierte für einen radikalen Perspektivwechsel in der Landschafts- und Städteplanung – indem er als Maßstab ästhetischer Wirkung allein den Blickwinkel des Flaneurs gelten ließ.

Seit Burckhardts Tod im Jahre 2003 wird dessen promenadologisches Erbe von seinem Schüler Martin Schmitz gepflegt, der nach der Kasseler Vorlesungsreihe nun auch im Rahmen einer großen Berliner Spaziergangs-Ausstellung im Kunstraum Bethanien das Wirken seines Mentors präsentiert. Betont wird hier besonders Burckhardts Lust am Paradoxalen: „Die Landschaft ist ein Konstrukt“, wusste der Wissenschaftler. Wer beispielsweise auf Schusters Rappen die französische Bourgogne erkunde, der trage im geistigen Marschgepäck ein ganzes Arsenal an Vorstellungen mit sich herum, wie es in der Bourgogne auszusehen habe. Der flanierende Versuch, diese vorgefertigten Bilder mit der Wirklichkeit abzugleichen, sei in aller Regel von Erfolg gekrönt – weil der Spaziergänger das Kontinuum der Landschaft in Bildersequenzen zerlege, aus denen er sich die jeweils passenden Elemente heraussuche. Burckhardt zieht daraus den radikalen Schluss, „dass die Landschaft nicht in den Erscheinungen der Umwelt zu suchen ist, sondern in den Köpfen der Betrachter“.

Ähnlich assoziativ nähert sich die gesamte Ausstellung ihrem Thema: Das Spazierengehen ist hier künstlerische Projektionsfläche, soziologisches Experimentierfeld, kapitalismuskritischer Widerspruch und Entdeckung der Langsamkeit zugleich. Besonders Letzteres macht die Schau zu einem echten Zeitgeistphänomen – denn zeugte jüngst nicht auch der Publikumserfolg fußreisender Autoren wie Wolfgang Büscher („Berlin–Moskau“) und Hape Kerkeling („Ich bin dann mal weg“) von einer allgemeinen Sehnsucht nach Entschleunigung, vom Überdruss an einer hypermobilisierten Gesellschaft?

Wie man den Luxus der Langsamkeit beim Spazierengehen auf die Spitze treibt, erkundet im Bethanien vor allem der in Mexico City lebende Belgier Francis Alys: Auf seinen Wegen durch die Stadt bremst sich der Künstler selbst aus, indem er beispielsweise seinen Pullover aufribbelt und beim Gehen Ariadnefäden durch den urbanen Raum spinnt – oder einen schmelzenden Eisblock so lange vor sich herschiebt, bis er sich aufgelöst hat. Damit ist auch schon die Frage angerissen, was dem Spaziergang eigentlich seinen Anfang und sein Ende vorgibt. Der US-Performancekünstler Vito Acconci fand darauf in den sechziger Jahren Antworten, die heute verstörend wirken: Er betätigte sich als künstlerischer Stalker, der seinen willkürlich ausgewählten Opfern so lange hinterherlief, bis sie in ihrer Wohnung Zuflucht suchten.

Der Offenlegung verborgener Flaneursgefilde widmet sich derweil eine beeindruckende Arbeit Larissa Fasslers: Aus Pappe hat die in Berlin lebende Kanadierin das weit verzweigte System der Fußgängertunnel unter dem Alexanderplatz nachgebaut – ein vielarmiges Monstrum, dessen bizarres Wurzelwerk sich sonst nur aus der Innenperspektive erkunden lässt. Während Fassler also räumlich das Innere nach außen kehrt, stellt die Britin Lenka Clayton das Verhältnis zwischen beobachtendem Flaneur und beobachteter Umwelt auf den Kopf: Sie lässt ein Erich-Honecker-Double durch Ostberlin promenieren und hält mit der Kamera die Reaktionen der Passanten fest (von „Diktator!“ bis „Wann kommst du wieder?“).

Als Ergänzung zu den ausgestellten Arbeiten dokumentiert ein von Caroline Bittermann gestalteter Rechercheraum die erstaunliche Fülle künstlerischer Auseinandersetzungen mit dem Spazierengehen, die aus Platzgründen nicht gezeigt werden konnte. Und wem vor lauter Wanderlust das Bethanien zu eng wird, für den bieten prominente Promeneure wie Tanja Dückers und Jonathan Monk parallel zur Ausstellung individuelle Stadtspaziergänge an. Am vielversprechendsten klingt der „endlose Spaziergang“ mit Till Krause: Das Ziel seines Wegs will der Künstler nicht verraten. Aber hat ein Flaneur überhaupt ein Ziel?

bis 14. Oktober, täglich 12 bis 19 Uhr im Kunstraum Bethanien, Mariannenplatz, Kreuzberg. Martin Schmitz spricht am 11. September um 19 Uhr über „Die Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt“. Weitere Vorträge und Spaziergänge unter www.kunstraumkreuzberg.de.

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