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Hannah Arendt, Autorin des Standardwerks „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus und Totale Herrschaft.“ 

© Art Resource, New York, Hannah Arendt Bluecher Literary Trust

Ausstellung zu Hannah Arendt im DHM: Nur das Gute ist radikal

Das Deutsche Historische Museum in Berlin eröffnet wieder – mit einer großartigen Ausstellung über die Denkerin Hannah Arendt. Und mit neuen Besuchsregeln.

Von Caroline Fetscher

An einem Abend im Sommer 1933 saß Hannah Arendt mit Kurt Blumenfeld im Lokal „Mampes gute Stube“, Kurfürstendamm 15. Die junge Philosophin rezitierte griechische Gedichte für ihren Begleiter.

Es war ein Abschiedsabend. Mit Blumenfeld, der zum zionistischen Kreis von Georg Landauer, Salman Schocken und anderen gehörte, hatte Hannah Arendt verfolgten Juden Beistand geleistet und antisemitische Äußerungen aus dem NS-Alltag gesammelt.

Im Juli 1933 wurde sie von der Gestapo festgenommen. Dem „reizenden“ Kriminalbeamten, der sie verhaftet hatte, spielte sie die harmlose Unwissende vor. Nach einer Woche ließ er sie gehen.

Sofort stand ihr Entschluss, auch ohne gültige Papiere die Stadt, das Land zu verlassen. Über Karlsbad, Prag und Genf floh Hannah Arendt nach Paris, 1941 über Lissabon nach New York. Sie schrieb und lehrte, wurde Amerikanerin und so berühmt wie umstritten und gefeiert.

Vor dem Besuch muss man sich online anmelden

Jetzt widmet ihr das Deutsche Historische Museum (DHM) die großartige Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“, ab diesem Montag zu sehen im Pei-Bau – gleich neben dem Zeughaus, in dessen Lichthof Hitler jeden März eine Rede zum Heldengedenktag hielt.

Die jüdische Denkerin, die 1975 starb, ist symbolisch zurückgeholt worden nach Berlin – wer hätte das 1933 geahnt. Doch es ist eine Ausstellung in Ausnahmezeiten, mit Abstandhalten, Hygieneregeln, Maske: Anmeldung online. Ein Zustand akuter Gefährdung begleitet die Ausstellung über eine Philosophin im Zeitalter enormer Gefahren.

[Deutsches Historisches Museum, 11. 5. – 18. 10., Fr-Mi 10-18 Uhr. Besuch nur mit Online-Voranmeldung]

Auch wenn das eine nichts mit dem anderen zu tun hat: Die entfremdende Situation scheint die Eindrücke der Fotografien, Filme, Hörcollagen, Briefe und Exponate aus Arendts Leben und dessen Bezug zum 20. Jahrhundert noch zu intensivieren.

Maskierte Menschen blicken nun auf das notariell beglaubigte, vergilbte Blatt vom Januar 1949, das der 15 Jahre lang Staatenlosen als Passersatz diente, „in lieu of Passport“.

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Eric Hobsbawm rahmte das „Zeitalter der Extreme“ zwischen 1914 und 1991 ein, vom Ersten über den Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des Kalten Krieges. Hannah Arendts Leben umspannte den Hauptteil der Extreme, die sie analysierte, scharfsinnig und schonungslos, provokant und widersprüchlich.

Ohne Arendts Begriffe vom Totalitarismus und der „Banalität des Bösen“, erklärte der israelische Autor Amos Elon, sei das 20. Jahrhundert „gar nicht zu verstehen“.

DHM-Präsident Raphael Gross konstatiert, über derart viele „Kristallisationspunkte des 20. Jahrhunderts“ haben „nur wenige Denker der Zeit“ so nachgedacht wie diese „öffentliche Intellektuelle“. Und Seyla Benhabib befand: „Hannah Arendts Leben ist eine Parabel auf das 20. Jahrhundert.“

Studium bei Martin Heidegger, Edmund Husserl und Karl Jaspers

Geboren 1906 bei Hannover, wuchs Hannah Arendt ab 1909 im säkularen, jüdischen Milieu von Königsberg auf, verlor im Alter von sieben den Vater und wurde früh geprägt von ihrer Mutter, einer furchtlosen Sozialdemokratin.

In den 1920er Jahren studierte Arendt in Freiburg und in Heidelberg bei den damals prominenten Köpfen Martin Heidegger, Edmund Husserl und Karl Jaspers. Arendts Verhältnis zu Heidegger, ihr Liebhaber aus Studientagen, der zum rassistischen NS-Adepten mutierte, und mit dem sie doch nach 1945 in Verbindung blieb, gehört zu den Rätseln, die sie aufgibt, und zu den Widersprüchen, die die Ausstellung ausleuchtet, und Urteile den Gästen überlässt. Urteilen, so die Arendt-Expertin und Kuratorin Monika Boll, sei ein Leitmotiv von Arendt.

1961, sie war längst anerkannt als Autorin des Opus Magnum „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, bekannte Arendt Jaspers gegenüber, sie habe vor Heidegger stets „geschwindelt“, und so getan, als ob sie „nicht bis drei zählen“ könne.

Im Pei-Bau birgt eine Vitrine Heideggers Rede zur „Selbstbehauptung der Universität“ von 1933. Arendts Werk las der Urheber pompöser Ontologismen nicht, er könne kein Englisch, hatte er versetzt. Den tiefsten Schock, sagte Hannah Arendt, verursachten ihr im Nationalsozialismus, „nicht die Feinde, sondern die Freunde“. Die emotionalen Verräter, die sich plötzlich abwandten, die Hitler diskutabel fanden. Leute wie Heidegger.

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„The Origins of Totalitarianism“ erschien zuerst 1951 in den USA und 1955 auf Deutsch. Mit ihrer monumentalen Studie hatte sich die „Protagonistin der Pluralität“ (Benhabib) den Unmut der Linken zugezogen, da sie strukturelle Kernmerkmale des Nationalsozialismus mit denen des Stalinismus zwar nicht gleichsetzte, aber doch verglich.

Den Raum zum Thema beherrscht ein Modell des polnischen Künstlers Mieczyslaw Stobierski: Das Krematorium II Auschwitz-Birkenau. Hunderte gipsweißer Figuren repräsentieren die Hunderttausenden in der Hölle des Vernichtungslagers Ermordeten, die Opfer des Phantasmas totaler Herrschaft.

Nach 1945 wandte sie sich vom Zionismus ab

Arendt, die als Exilantin in Frankreich jüdischen Kindern zur Flucht nach Palästina verholfen, und in der Emigrantenzeitschrift „Aufbau“ gefordert hatte, eine jüdische Armee solle mit den Alliierten gegen Hitler kämpfen, wandte sich nach 1945 teils stark vom Zionismus ab.

Israel, so ihr Urteil im Oktober 1945, drangsaliere die arabische Bevölkerung, der nichts bliebe als „freiwillige Emigration“ oder „Bürger zweiter Klasse“ zu sein, mehr Antisemitismus werde heraufbeschworen. Eindringlich zeichnen die Hörcollagen der Ausstellung diese Debatten nach.

Gerschom Scholem erwiderte, Antisemitismus werde es mit oder ohne den Staat Israel geben, und Araber seien zu keiner Lösung bereit. Auf gespenstische Weise flackert inzwischen „postkoloniale Israelkritik“ auf, etwa im Antisemitismus von Boykottkampagnen gegen israelische Institutionen oder Produkte, etwa bei Intellektuellen wie Achille Mbembe, Judith Butler oder Gayatri Spivak.

Bewegende Filmzitate in der Ausstellung

Auf massiven Protest stieß Arendts Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1963, Untertitel „Die Banalität des Bösen“. Eine verfolgte Jüdin schien Taten und Täter zu bagatellisieren, dieselbe Frau, die jüdischen Verfolgten geholfen hatte.

Arendts Behauptung, die „Judenräte“ hätten mit dem NS kooperiert, entsetzte selbst nahe Weggefährten. Sie verteidigte sich 1964 im legendären Gespräch mit Günter Gaus, dem die Ausstellung bewegende Filmzitate entnimmt.

Das kalte Gegenstück bietet ein Interview, worin Joachim Fest, bohrend, nahezu lauernd, auf die Exkulpation der Täter und Eid, Ehre, Pflicht zu hoffen schien. Ausgestellt wird ein Transkript aus den Eichmann-Verhören von Avner Less, worin der Angeklagte zu Protokoll gab, er habe „die Sache mit der Vergasung“ nicht ansehen können, er wäre sonst „aus den Latschen gekippt“.

US-Einbürgerungsurkunde von Hannah Arendt aus dem Jahr 1951.
US-Einbürgerungsurkunde von Hannah Arendt aus dem Jahr 1951.

© Washington D.C., The Library of Congress, The Hannah Arendt Papers

In einem öffentlichen Austausch mit Gerschom Scholem in der „Neuen Zürcher Zeitung“ hielt er Arendt 1963 vor, wie verstörend „der herzlose, ja oft geradezu hämische Ton“ sei, etwa wenn sie Leo Baeck als jüdischen „Führer“ bezeichnete. Eichmann, so Scholem, sei „nicht der banale Herr“, als den Arendt ihn entwarf – nun vollends belegt durch die Studien von Bettina Stangneth.

Arendt räumte ein, sie spreche „nicht mehr vom radikal Bösen“, das Böse könne nur verwüsten. „Tief aber und radikal“ sei „immer nur das Gute“. Verzichtet man auf die mythisierende Kategorie des „Bösen“, etwa angesichts der „ganz normalen Männer“ des Reserve-Polizeibataillons 101, die Christopher Browning untersuchte, scheint weniger die Banalität des „Bösen“ auf, als das Monströse der Banalität.

Den Thesen zur „autoritären Persönlichkeit“ konnte sie nichts abgewinnen

Illustriert wird auch Arendts Verhältnis zur Studentenbewegung, der sie unpolitische „Sandkastenspiele“ attestierte und mangelnden Realitätssinn angesichts des Kommunismus. Arendt pochte auf Autorität, jedoch als politische Tugend des Anerkennens von Erfahrung und Wissen.

Adornos und Horkheimers Thesen zur Destruktivität der „autoritären Persönlichkeit“ konnte sie nichts abgewinnen, doch klar erklärte sie: „Wo Gewalt gebraucht wird um Gehorsam zu erzwingen hat Autorität immer schon versagt.“

Zigarettenetui von Hannah Arendt.
Zigarettenetui von Hannah Arendt.

© Deutsches Historisches Museum, Sammlung Edna Brocke. Foto: DHM/ D. Penschuck

Nur wenige, wie Daniel Cohn-Bendit, dessen Eltern mit Arendt befreundet waren, erfassten ihren radikal-demokratischen, kapitalismuskritischen Ansatz – und eigens für die Ausstellung wurde ein Video-Interview mit Cohn-Bendit aufgenommen.

Mit Sorgfalt ausgewählt sind die vielen sprechenden Objekte der Ausstellung, Arendts Zigarettenetui, das fragile Adressbüchlein ihres Freundes Hans Jonas, die Minox-Kamera, mit der sie Freunde porträtierte. Ihre Fähigkeit zu Freundschaften behielt sie ihr Leben lang. Über Rose Feitelson, treue Freundin und Lektorin der „Origins“ sagte Arendt einmal, diese sei auch „ein bißchen ein Deibel, eine entzückende Krabbe“.

Arendts geliebter Ehemann, der mit ihr zusammen emigrierte Kunsthistoriker Heinrich Blücher, ein Berliner Arbeitersohn, schrieb ihr 1950 aus New York nach Paris: „Wo Du mit mir bist, da ist mein Haus.“
[Begleitband: Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert. Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.). Piper Verlag 2020, 22€.]

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