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In Verbindung bleiben. Fotograf Frédéric Brenner ließ die Porträtierten selbst entscheiden, wie sie sich für seine Bilder inszenieren wollten.

© Frédéric Brenner

Ausstellung „Zerheilt“ im Jüdischen Museuzm: Die Kraft des gefallenen Laubs

Blätter im Jüdischen Museum: Frédéric Brenners fotografischer Essay „Zerheilt“ über jüdischen Alltag in Berlin.

Ein Mann, nicht mehr jung, liegt auf dem Bauch, sein nackter Körper streckt sich auf der schwarzen Erde aus, der Rücken komplett tätowiert mit Text. Das Bild strahlt eine kraftvolle Rätselhaftigkeit aus. Wo ist es aufgenommen? Wer ist der Mann? Ist er tot? Was steht auf seinem Rücken?

Tatsächlich kann man, wenn man will, das alles herausfinden. Man kann sich aber auch dem Nicht-Wissen ausliefern, ihm Zeit geben, es auf sich einwirken, durch sich hindurchziehen lassen. Die rund drei Dutzend Fotografien in der Ausstellung „Zerheilt“ von Frédéric Brenner im Jüdischen Museum Berlin funktionieren alle nach diesem Prinzip.

Einen Titel oder Informationen über die abgebildeten Personen sucht man vergeblich. Nackt und bloß wie der liegende Mann auf der Erde steht der Betrachter vor diesen Aufnahmen, ihnen ausgeliefert. Warum hat Brenner die stille, etwas altmodische Anrichte mit den vertrockneten Rosen abgelichtet? Warum dieses Gestrüpp aus Baumstümpfen und abgestorbenen Ästen?

Natürlich verbergen sich hinter jedem Bild Geschichten – oft führen sie in Abgründe, wenn man ihnen nur lange genug folgt. Das Gestrüpp wuchert auf dem Gelände der Topographie des Terrors, die Anrichte mit den vertrockneten Blumen steht in der Wohnung von Hilde Schramm, ehemalige Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses und Tochter von Albert Speer. („Zerheilt“, Jüdisches Museum Berlin, täglich 10-19 Uhr, Eintritt frei)

Den Bildern solchermaßen ihr Geheimnis zu rauben, zerstört das die Fotografie als Kunstwerk, seine Aura? Will man wirklich wissen, dass der nackte Mann auf der Erde Carey Harrison heißt, Dramatiker und Sohn der in den 30er Jahren ins Exil gezwungenen Schauspielerin Lilli Palmer, dass das Foto im Grunewald entstanden ist und der tätowierte Text auf seinem Rücken der Anfang von Adornos „Minima Moralia“?

Wo doch im Grunde das Nicht-Wissen an diesem Punkt erst beginnt

Natürlich sind solche Hinweise interessant. Aber auch tückisch. Vermitteln sie doch die trügerische Sicherheit, das Gesehene damit umfassend verstanden, es ausgeschöpft zu haben. Wo doch im Grunde das Nicht-Wissen an diesem Punkt erst beginnt.

Und damit auch die Reise im Kopf. „Fotografisches Essay“ nennt Brenner sein Projekt. Tatsächlich gleicht die Ausstellung einem Text. Aber seinen Inhalt erzählt sich jeder Besucher, jede Besucherin selbst. „Meine Arbeit ist das Ergebnis langjähriger Entwicklung. So radikal wie hier habe ich noch nie auf Bildinformationen verzichtet“, erzählt Brenner beim Presserundgang.

Seit 25 Jahren erforscht er fotografisch jüdisches Leben in 25 Ländern in der Diaspora und in Israel selbst. 2019 war im Jüdischen Museum die von ihm organisierte Ausstellung „This Place“ zu sehen, in der zwölf Fotografinnen und Fotografen die Komplexität und die Widersprüche des Lebens im Westjordanland und Israel mit der Linse einzufangen versuchten.

Mit „Zerheilt“ nimmt sich Brenner erstmals jüdisches Leben im Berlin der Gegenwart vor, einer Stadt, in die er einst vom Wissenschaftskolleg eingeladen wurde und in der er jetzt seit drei Jahren lebt.

Es ist ein dramatisches Wort: Zerheilt. Gewalt klingt in ihm an; es ist, als ob der erste Wortteil den eigentlich positiven zweiten mit in den Schatten zöge. Die Vorsilbe zer- ist im Deutschen für Schlimmes zuständig. Etwas wird angetan: zersetzen, zerstören, zerfurchen, zerreißen. Und doch ist am Ende jemand geheilt. Die Frage ist nur: Ist es eine Heilung nach der Zerstörung – oder eine Zerstörung durch Heilung, wie es der englische Ausstellungstitel „Healed to Pieces“ nahelegt?

Tatsächlich stammt die Formulierung von Paul Celan. „Man hat mich zerheilt“, schrieb er an die befreundete Schriftstellerin Ilana Shmueli. Celan bezog sich dabei auf die psychiatrischen Kliniken, in denen er behandelt wurde. Doch wenn Frédéric Brenner den Begriff auf jüdisches Leben in Deutschland und besonders in Berlin anwendet, dann passt das ebenso.

„Berlin ist ein wunderbarer, fantastischer Ort für Juden“, meint Brenner, der schon in vielen Städten gelebt hat. „Unvergleichbar, experimentell, ein Konzentrat der Fragen, mit denen wir ringen, vor allem von Identitätsfragen. Und zugleich drehen wir uns alle um diesen Abyss der Shoa, spüren seine Gravitation.“ Im direkten Gespräch wird schnell deutlich, dass Brenner, geboren 1959 in Paris, ein lebhafter, freundlicher, blitzschnell denkender Mensch ist, der seine Umwelt sehr genau wahrnimmt und dabei die Fähigkeit des Loslassens besitzt – die er in seine ganz spezifische Fotokunst übersetzen kann.

„Es war seine Idee. Carey wollte so abgebildet werden“

Die leise Schönheit herbstlicher Blätter bei einem Spaziergang durch Berlin hätten ihn zu diesem „Zerheilt“-Projekt inspiriert, schreibt er im Ausstellungsbuch: „Geschaffen, um zu fallen, erinnerte mich dieses Laub an die Kraft des Aufgebens, des Nicht-Mehr-Suchens, des Vertrauens, Zuhörens, Annehmens.“ Durchaus programmatisch also, dass gleich in der ersten Fotografie der Serie ein Mensch wie ein gefallenes Blatt auf dem Boden liegt.

„Es war seine Idee. Carey wollte so abgebildet werden“, erzählt Brenner, der Harrison als Gast beim Wissenschaftskolleg kennengelernt hat. Auch hier wieder: Der Fotokünstler gibt sich hin, lässt andere kommen. In den Fotografien von „Zerheilt“ sind Menschen zu sehen, die sich selbst und ihr Jüdischsein inszenieren. So wie in einem jüdischen Alltag in Berlin immer auch Inszenierung steckt.

Keines dieser Fotos ist spontan entstanden, im Grunde sind sie ein einziger Widerspruch zu Henri Cartier-Bressons Maxime, der überzeugt war, Realität einfangen zu können, wenn er nur lange genug auf den „instant décisif“ wartete, auf den „entscheidenden Augenblick“.

Den gibt es bei Brenner nicht, seine Bilder – sei es Barrie Kosky in der Komischen Oper, eine Gruppe Jugendlicher am Landwehrkanal, ein Paar in der Wohnung, sie hochschwanger oder ein Mann, halb in Businesskleidung, halb in der Tracht eines orthodoxen Rabbis – sind hochgradig arrangiert und sorgsam vorbereitet, Ergebnis von Gesprächen, die sich über eineinhalb Jahre erstreckt haben (und von denen man Soundschnipsel als Collage in der Ausstellung hören kann). Die konkrete Aufnahme ist im Grunde nur der letzte, nahezu beiläufige Schritt in einer langen Kette von Augenblicken, die jedes dieser Bilder in sich trägt.

Was Brenner jetzt vorhat, weiß er noch nicht. Es kommt drauf an, welches Laubblatt ihm als nächstes vor die Füße fällt.

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