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Harte Schlagschatten, gnadenlose Leere: Georg Schrimpfs Olgemälde "Bahnübergang" von 1932.

© bpk / Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie

Ausstellung „Surreale Sachlichkeit“: Der Wahn in der Ordnung

Auf den ersten Blick wirken die Bilder der neusachlichen Malerei pedantisch aufgeräumt. Doch der tiefere Blick, den die Sammlung Scharf-Gerstenberg erstmals wagt, zeigt: Dahinter liegt etwas Bedrohliches.

Hell leuchtet der Sonnenaufgang dem Betrachter vom Horizont entgegen. Allerdings ist die Sicht auf den diffusen zartrosa Streif in der Ferne, in dem sich einige kahle Bäume recken, beschränkt. Ein Bahnübergang stellt sich quer, ernüchtert den Blick. Das strahlende Licht dringt nur durch eine rechteckige Öffnung aus Beton. Auf den Gleisen, in den aus hellem Stein gemauerten Stützen einer Fußgängerbrücke, leuchtet der Sonnenschein als Abglanz noch einmal auf. Romantik, Ekstatik, auf der Leinwand ausgelebte Gefühle – Fehlanzeige.

Georg Schrimpfs Gemälde „Bahnübergang“ ist ein Prachtexemplar der Neuen Sachlichkeit, 1932 zur Hochzeit entstanden. Seine Bilder waren so schnörkellos und klar, dass sie nicht einmal den Nationalsozialisten gefielen. Vor allem war ihnen seine linke Gesinnung suspekt.1937 werden von Schrimpf 33 Werke aus den Museen entfernt, im Jahr darauf reicht der Maler sein Entlassungsgesuch bei der Staatlichen Kunstschule in Berlin ein, wohin er vier Jahre zuvor berufen worden war. Wenig später, mit 49 Jahren, stirbt er überraschend an Herzversagen.

Der Künstler gehört zur verlorenen Generation der zwischen 1880 und 1900 Geborenen, die zwei Weltkriege, Inflation und Weltwirtschaftskrise überstanden und im „Dritten Reich“ häufig als „entartet“ galten. War es ihnen gelungen, all das zu überstehen, dann hatten sie nach '45 im Westen wegen ihrer figurativen Malerei trotzdem häufig keine neue Chance, im Osten wurden sie als Vorläufer des sozialistischen Realismus vereinnahmt, viele verweigerten sich. Eine Rehabilitation haben die Künstler der Neuen Sachlichkeit heute dennoch nicht mehr nötig, sie sind längst im Kanon der Kunstgeschichte angelangt. Ihre Bilder hängen mittlerweile in allen wichtigen bundesrepublikanischen Museen. Aber eine Schärfung des Blicks auf ihr Schaffen vor bald 100 Jahren, genauer: eine Verschiebung der Perspektive kann nicht schaden.

Die brodelnde Unsicherheit und das Wahnhafte

In der Sammlung Scharf-Gerstenberg wird dies gerade versucht. Der Ansatz, sie hier durch die surrealistische Brille zu betrachten, kann nicht überraschen, ist doch im östlichen Stülerbau in Charlottenburg genau jener Surrealismus zu Hause, der zeitgleich mit den neusachlichen Malern gedieh. Und siehe da, Schrimpf und Co. könnten auch Mitglied in diesem Club sein. Die Chefin des Hauses, Kyllikki Zacharias, dekliniert den Ansatz an 80 Bildern der zwanziger und dreißiger Jahre aus dem Bestand der Nationalgalerie durch, die ihr frei zur Verfügung standen, da wegen Sanierung des Mies- van-der-Rohe-Baus am Kulturforum im Moment ohnehin alles im Depot bleiben muss.

Das Experiment „Surreale Sachlichkeit“, so der Ausstellungstitel, gelingt der Kuratorin erstaunlich überzeugend. Den Ausgangspunkt bildet de Chiricos „Großer Metaphysiker“, mit dem er die metaphysische Malerei begründet, die Vorläuferin des Surrealismus. Tatsächlich finden sich immer wieder Elemente aus dem programmatischen Gemälde, das de Chirico etliche Male variierte, nicht nur bei den Surrealisten wieder, sondern auch bei den Kollegen von der Neuen Sachlichkeit, nur hatte man sie dort bisher noch nicht gesucht. Die schräg gestellten, steilen Bögen des Bahnübergangs, die harten Schlagschatten, die gnadenlose Leere der Szene tauchen auch im Gemälde von Georg Schrimpf wieder auf.

Noch wichtiger als die konkreten Motive, die sich wiederfinden, ist eine gewisse Stimmung des Bedrängten, des Wahnhaften. Auf den ersten Blick wollen die neusachlichen Maler Ordnung schaffen, ihre Landschaften und Interieurs sind geradezu pedantisch aufgeräumt. Aber gerade diese Klarheit lässt sich auch als eine scharf gestellte Linse auf die unter der Oberfläche brodelnde Unsicherheit lesen. Franz Lenks „Amaryllis“ aus dem Jahr 1930 scheint von einer manischen Präzision. Allerdings passen die Größenverhältnisse nicht zur dahinter abgebildeten Landschaft, plötzlich zeigen sich räumliche Sprünge zwischen Topfpflanze und Landschaft, die klare Komposition beginnt zu schwanken.

Monströse Kinder, verstörte Familien

Das Gefühl, hier stimmt etwas nicht, beschleicht den Betrachter umso mehr, je länger er die Ausstellung besucht: mit ihren monströsen Kindern, verstörten Familien, hohläugig blickenden Erwachsenen, kryptischen Stillleben mit Glaskugel oder umgewendetem Frack, den mit Lineal vermessenen Landschaften. Alles, was zunächst rational durchkonstruiert erschien, besitzt eine bedrohliche Seite, das Chaos, die nackte Angst könnte sich unter der korrekt gescheitelten Oberfläche verbergen.

Die präsentierten Werke teilen sich zuweilen etwas brav in Kabinette mit Porträt, Landschaft, Interieur auf, aber gerade in der Summierung einzelner Motive drängt sich der einmal gewonnene Eindruck immer stärker auf. Geradezu symbolhaft verdichtet er sich in den erstaunlicherweise bei den Malern so beliebten Kakteen. Haarfein pinselte Fritz Burmann in seinem Stillleben von 1930 die Stacheln aus. Der daneben auf dem Tisch platzierte chinesische Lampion mit Brandflecken aber verrät: Die kleine Exotik im Spießerheim könnte den Bewohnern auch gefährlich werden.

Was passiert in Zukunft mit der Sammlung?

Der besondere Reiz der Ausstellung „Surreale Sachlichkeit“ besteht für Macher wie Besucher nicht zuletzt darin, dass hier die Bestände der Nationalgalerie neu gesichtet und unter ganz anderen Kriterien als bisher vorgeführt werden. Damit verbindet sich zugleich ein öffentliches Nachdenken darüber, was im künftigen Museum des 20. Jahrhunderts am Kulturforum, kurz M20 genannt, tatsächlich ausgestellt werden soll. Heinrich Harry Deierlings irrlichterndes „Selbstporträt im Spiegel“ von 1929 oder Otto Dix’ perfides Kinderbildnis von 1932, das einen eklig wurmhaften Säugling in einem Meer aus Decken zeigt, dürfte sich künftig gewiss darunter befinden.

Zugleich eröffnet sich die Frage, was passiert eigentlich mit der Sammlung Scharf-Gerstenberg, deren Leihvertrag in zwei Jahren ausläuft. Natürlich würde Julietta Scharf die Kollektion ihrer Familie am liebsten weitere zehn Jahre in dem Schatzhaus gegenüber dem Museum Berggruen exklusiv präsentiert sehen. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz lässt sie einstweilen warten. Alles zu seiner Zeit, so Nationalgalerie-Direktor Udo Kittelmann. Die Sammlung Pietzsch, die als Schenkung den Anstoß zum Neubau am Kulturforum gab und ebenfalls ihren Schwerpunkt beim Surrealismus hat, wird in die Gesamtpräsentation des künftigen Museums des 20. Jahrhunderts eingegliedert sein. Ende Oktober fällt die Entscheidung beim Architekturwettbewerb. Mit dem Gehäuse wird sich weiter herauskristallisieren, wie viel Platz es im neuen Haus tatsächlich gibt, wer mit einzieht – und ob Charlottenburg als weiterer Standort der Moderne tatsächlich künftig sinnvoll ist.

Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstr. 70, bis 23. 4.2017, Di-Fr 10 - 18 Uhr, Sa / So 11-18 Uhr, Katalog 25 €.

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