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Der Künstler Gert Jan Kocken hat die Dollarnote, auf denen 1945 die Crew der Enola Gay unterschrieb, auf zwei Meter vergrößert.

© Sammlung Kunstmuseum Wolfsburg

Ausstellung Kunstmuseum Wolfsburg: Käfig aus Gummi

Auf der Suche nach der Freiheit und ihren Grenzen: Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt Werke von Gursky, Rauch, Wurm und vielen anderen Gegenwartsgrößen.

Einfach nervtötend, dieser Alarmton. Kaum betritt man den Ausstellungsraum, schrillt er los. Die Besucher müssen sich den Bondage-Aktfotos von Nobyoshi Araki bis auf Tuchfühlung nähern, erst dann verstummt das ohrenbetäubende Piepen. Jeppe Heins Soundinstallation verkehrt das übliche Museumsalarmsystem, das die Besucher auf Abstand hält, ins Gegenteil. Aber will man den kunstreich zum Paket verschnürten weiblichen Aktmodellen Arakis wirklich so nahe treten?

Jeder muss hier selbst ausloten, wo die Schmerzgrenze des Erträglichen erreicht ist, nicht nur akustisch. Der Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg, Ralf Beil, hat die beiden künstlerischen Arbeiten kurzerhand nach eigenem Gutdünken kombiniert und so einen sehr speziellen Erfahrungsraum geschaffen. Auch die regulierten Bedingungen, unter denen man Kunst im Museum sieht, legt er damit offen. „Im Käfig der Freiheit“ nennt Beil seinen thematischen Streifzug durch die eigenen Bestände. Und er betont: „Arakis Modelle haben das freiwillig gemacht. Sie leben damit ihre sexuelle Freiheit aus.“ Jede Freiheit ist eben auch ein Käfig. Oder umgekehrt. Der agile Museumschef Beil geht auch von seiner eigenen Situation aus. Anfang 2015 hat er seinen Posten angetreten. Aber selbst auf dem Chefsessel agiert man umstellt von Zwängen, dem Erfolgsdruck des Kunstbetriebs, den Mechanismen des Marktes. Aber, so Beil: „Mein Käfig ist sehr groß.“

Gleich im ersten Raum versperrt ein wandhoher Maschendrahtzaun die Sicht. Das täuschend echte Motiv ist per Sandstrahlverfahren auf verspiegeltes Glas graviert. Darin tritt sich der Besucher auch selbst gegenüber: visuell eingesperrt in einen Käfig, der nur Vorspiegelung ist, Illusion. Ungehinderten Schritts geht es weiter. Ein Polizist samt Riesen-Plüschbär, von Jeff Koons geschnitzt, verkörpert die Gewalt der Obrigkeit und gibt sie der Lächerlichkeit preis. Mit sanftem Dauerbeat führt ein Video von Daniel Pflumm die Freiheiten des Konsums anhand von sinnentleerten Markenlogos vor Augen. Weniger sanfte Erkenntnismethoden wendet Johannes Kahrs an. Der Künstler klebt sich schwarzes Tape über Mund, Augen, Ohren und reißt es sich ruckartig wieder ab: Scheuklappen weg! Autsch.

Was Beil hier präsentiert, ist auch eine Leistungsschau. Zehn der gezeigten Werkkomplexe von Sharon Lockhart bis Rémy Markowitsch kamen unter seiner Ägide neu in die Sammlung. Und das trotz „Ankaufsetat null“, wie er freimütig bekennt. Was erworben werden soll, muss vom Ausstellungsbudget abgezwackt werden. Ohne Schenkungen, Dauerleihgaben, Freundeskreis geht da nichts. Die Jeppe-Hein-Arbeit schenkte der Berliner Sammler Giovanni Springmeier her, auf Rat des Künstlers. Wolfsburg hatte Hein zuvor eine Soloschau ausgerichtet: eine Win-Win-Situation für Künstler und Museum. Auch Andreas Gursky, Neo Rauch und jüngst Erwin Wurm zeigten sich nach ihren Ausstellungen hier großzügig. Eine vor Ort geschaffene Wandzeichnung Tim Wolffs durfte ebenso bleiben wie Rémy Markowitschs großartige Recherche-Arbeit über einen vergessenen jüdischen Pionier der Volkswagenidee. Jetzt verkörpert diese Arbeit den politischen Aspekt des Freiheitsthemas.

Elastische Freiheit

Auf der Freiheit, einfach nichts zu tun, dem Regen zu lauschen und eine Zigarette zu rauchen, beharrt die junge Amerikanerin Katie Armstrong. Während ihres Berlin-Stipendiums aquarellierte sie das sanfte Vergehen der Zeit Blatt für Blatt in schwarzweiße Einzelbilder, die sich zu einem suggestiven Film verdichten. Dann steht man vor Douglas Gordons berühmter, auf 24 Stunden gedehnter Version von Hitchcocks „Psycho“. Und spürt plötzlich, intensiv wie nie, das Gefangensein im Moment, in der ewigen Gegenwart des Jetzt.

Der Begriff der Freiheit, wie Beil ihn hier durchdekliniert, erweist sich als überaus elastisch, ein Käfig aus Gummi. Aber die ausgewählten Arbeiten eignen sich gut als Trainingsparcour für mentale Lockerungsübungen. Eine der schönsten Installationen steuerte Erwin Wurm bei: Seine aus trutschigen Möbeln geschraubte Interieur-Persiflage „Hauptquartier“ fordert dazu auf, die gewohnten Handlungsmuster einfach mal durch neue zu ersetzen. Hier darf man anstrengungslos einen Kleiderschrank schultern oder sich flach unters Bett legen. Daneben flimmert ein Video, auf dem ein junges Paar sein Auto kurzerhand eine Hauswand hochsteuert und da oben einparkt. Als wäre das nichts. Die Schwerkraft außer Kraft setzen, auch diese Freiheit hat die Kunst.

„Im Käfig der Freiheit“, Kunstmuseum Wolfsburg, bis 15. Januar, Di-So 11-18 Uhr, Katalog 128 Seiten, 12 €.

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