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Alle versammelt. Blick in die Ausstellung von Chloe Piene. Im Vordergrund die audiovisuelle Arbeit „Chloe“ von 2016 mit Helm und Cape.

© Galerie Barbara Thumm

Ausstellung in der Galerie Barbara Thumm: Das schwarze Tuch der Familie

Psychologie trifft Mythologie: In dem Projekt „Familienaufstellung“ erforscht die Künstlerin Chloe Piene auf verstörende Weise die Beziehung zu ihrer Familie.

Verstörend wirken viele Werke der US-Amerikanerin Chloe Piene. Bereits zum dritten Mal kehrt die 1972 im Bundesstaat Connecticut geborene Künstlerin in die Kreuzberger Räume der Galeristin Barbara Thumm zurück. Der mehrdeutige englische Titel ihrer jüngsten Ausstellung „Surgery“ deutet eine Verwandlung an, der die Räume unterzogen wurden. „Surgery“, das sind das ärztliche Behandlungszimmer, die Sprechstunde und die Operation. Das medizinische Thema, um das es hier geht, ist allerdings seelischer Natur.

Methodisch auf den Spuren der Psychotherapeuten Jakob Moreno und Virginia Satir realisierte Piene 2016 in Wien eine ‚Familienaufstellung‘. Mit Unterstützung eines moderierenden Arztes erforschte die Künstlerin die Beziehung zu ihrer Familie. Stellvertretende Akteure nahmen deren Stelle ein. Nicht nur die Protagonistin, auch die Mitspieler in diesem Psychodrama schildern im Gespräch mit dem Arzt ihre Gedanken und Gefühle, die sich aus der räumlichen Beziehung zueinander ergeben. Die Position im Raum wird von der Probandin selbst bestimmt und bringt das innere seelische Verhältnis äußerlich zum Ausdruck.

In ihren Collagen überlappen sich Identitäten

Die künstlerische Umsetzung besticht. Im hinteren Raum der Galerie bedeckt ein schwarzes Tuch den Boden. Darunter verbergen sich zwei stehende Figuren, die nicht weiter zu identifizieren sind. Vorn steht unter dem Tuch ein Hocker, darauf liegt ein Motorradhelm, an dem auch das Tuch befestigt ist. Setzen sich die Besucher den Helm auf, so hören sie einen Audio-Mitschnitt der Wiener Sitzung und treten nun selbst an die Stelle von Chloe Piene. Zehn gerahmte Collagen (je 4500 Euro) auf der Rückwand des Raums illustrieren die Figuren der Familienaufstellung. In diesen Collagen überlappen sich verschiedene Identitäten. Ein Porträt ihrer Tochter überlagert sie mit einer Aufnahme ihrer eigenen Mundpartie. Dem Jugendbild ihres Vaters verpasst sie ein Altersbild seiner Nase. An anderer Stelle staffelt die Künstlerin das väterliche Konterfei gleich dreimal ineinander.

Wer dem Mitschnitt der Sitzung gelauscht hat, der weiß danach von Chloe Pienes komplexem Verhältnis zu ihrem Vater. Auch wenn der schwarz glänzende Helm und der dunkle Umhang in der Ausstellung die Assoziationen in Richtung Weltraumepos lenken: Der geheimnisumwitterte Vater heißt Otto. Es ist ebenjener Otto Piene, der die Zero-Gruppe mitbegründete und der 2014 in Berlin verstarb.

Selbst an grotesken Stellen schimmert der tiefe Sinn für Schönheit durch

Der Vergleich der Eltern mit den Kindern ist an sich schon lästig für Letztere. Für Künstler kann er im Ringen um Unabhängigkeit und eigener Handschrift zu einer lebenslangen Belastung werden. Diese Auseinandersetzung ist ein archetypischer Konflikt, der in zahlreichen mythologischen Erzählungen seinen Niederschlag gefunden hat. Es sind oft verstörende Berichte, und mit Mut reiht sich Chloe Piene in die Tradition. Diese enge Wechselbeziehung des Psychologischen mit dem Mythologischen in bildgewaltiger Gestalt teilt Piene mit dem renommierten Künstler Matthew Barney. So überrascht es nicht, dass auch Barney Teilnehmer der Familienaufstellung war und in der Collage „Bruder“ abgebildet ist. Er liefert zudem einen guten Bezugspunkt zu den Zeichnungen Chloe Pienes im vorderen Galerieraum. Seismografische Zeichnungen, mit Kohle auf Papier gebracht, erinnern an die „Drawing Restraints“ ihres „Bruders“ Barney. Unter abstrakten, zittrigen Linien entwirren sich im Lauf der Betrachtung fragile Figuren, Ergebnis einer „écriture automatique“.

Bei beiden Künstlern begründet eine spürbare Anspannung in ihren manuell gefertigten Werken eine sichtbare Intensität. Pienes Arbeiten aus der Zeit zwischen 2006 und 2013 variieren im Preis zwischen 7300 und 27 800 Euro. Eine kleine Plastik aus dem Jahr 2009 bringt es auf 40 300 Euro. Die Ausstellung mag verstörend sein – aber auch an ihren grotesken Stellen schimmert ein tiefer Sinn für Schönheit hindurch.

Galerie Barbara Thumm, Markgrafenstr. 68; bis 11.3., Di–Fr 11–18 Uhr, Sa 12–18 Uhr

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