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Sesede Terziyan, Margarita Breitkreiz und Kenda Hmeidan spielen in „Außer sich“ von Sebastian Nübling die Teilmengen einer Person.

© Ute Langkafel/Maifoto

„Außer sich“ am Gorki Theater: Ich bin drei Alis

Sebastian Nübling inszeniert am Gorki Theater Identitätskrisen, das Romandebüt „Außer sich“ von Sasha Marianna Salzmann.

„Die Frau auf dem Bild sieht dir ähnlich“, sagt der Grenzbeamte zu Alissa und ist sich nicht ganz sicher, ob er jetzt in den Flirtmodus schalten soll oder nicht. „Die Haare sind ab.“ Alissa, die sich nur Ali nennt, weiß genau, woran der von Mehmet Atesci mit passgenau schmierigem Übergriffigkeitslächeln gespielte Beamte sonst noch zweifelt, und dies sogar fundamentaler als an seinen Flirtaussichten. Nämlich daran, so Ali, „ob ich ich bin“.

Mit diesem philosophischen Problem ist der Grenzer indes bei Weitem nicht allein an diesem Abend im Berliner Maxim Gorki Theater. Schließlich bildet die Identitätsfrage geradezu das Zentrum von Sasha Marianna Salzmanns gefeiertem Romandebüt „Außer sich“, das letztes Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und jetzt im Gorki von Sebastian Nübling inszeniert wird.

Salzmann, die als Dramatikerin schon länger Erfolge feiert, erzählt in ihrem Prosa-Erstling eine queere Identitätskrise als Familiengeschichte. Hauptfiguren sind die innig verbundenen Zwillinge Alissa und Anton, die noch in die Sowjetunion hineingeboren werden, aus dem postsozialistischen Russland mit ihren Eltern nach Deutschland emigrieren. Ihre Erfahrungen im niedersächsischen Asylbewerberheim schweißen sie noch enger zusammen, aber irgendwann verlieren sie sich trotzdem: Anton ist eines Tages verschwunden. Und das einzige Indiz, das vage auf seinen Aufenthaltsort hinweist, ist eine Postkarte aus Istanbul.

Ali gerät auf der Suche nach Anton in die Gezi-Proteste

Die Suche, auf die Ali sich nun begibt, führt nicht nur mitten hinein in die Proteste vom Gezi-Park, sondern auch zeit- und ortsübergreifend in die eigene (jüdische) Familiengeschichte. Am Ende stehen zwar weder ein sicher aufgefundener Anton noch klare Antworten. Dafür klingt die Ausgangsfrage jetzt selbstbewusster: Vielleicht ist Anton ja gar nicht der verschwundene Andere, sondern eine Ali-Teilmenge.

Sebastian Nüblings Inszenierung spielt erwartungsgemäß leitmotivisch mit dem Identitätsthema. Und mit der üblichen Unschärfe, getreu Alis Erkenntnis: „Meine Erinnerungen legen sich aufeinander wie Folien und verrutschen. Sie ergänzen und widersprechen sich, ergeben neue Bilder, aber ich kann sie nicht lesen, auch Kopfschütteln bringt nichts.“

Bühnenbildnerin Magda Willi hat dafür eine Glasfront aufs Szenario gebaut, die sich auch hervorragend als Spiegel eignet. Mindestens doppelt besetzt ist natürlich auch die Protagonistin Ali selbst – mit dem Schauspielerinnen-Duo Kenda Hmeidan und Sesede Terziyan, das genauso überzeugend frühkindliche Zwillingsspiele auf die Matte turnen wie im Glitzer-Party-Outfit durchs Istanbuler Nachtleben tanzen kann. Und das – verletzlich die eine, cool die andere – verschiedene Facetten ihrer Figuren in den Vordergrund rückt.

Margarita Breitkreiz' Energie überfährt einen regelrecht

Überhaupt ist es das Schauspiel, das Nüblings Inszenierung sehenswert macht. In Margarita Breitkreiz, die man aus Frank Castorfs letzter Dostojewski-Adaption „Die Brüder Karamasow“ an der Volksbühne noch in frischer Erinnerung hat und deren mitgebrachte Ästhetik am Gorki ganz hervorragend wirkt, hat das Duo einen großartigen Sidekick. Gelegentlich springt sie freilich auch in die Ali-Rolle.

In erster Linie brilliert Breitkreiz aber als Katho, jene Tänzerin, die „eigentlich ein Er“ ist, wie sie Ali, mit der sie sich sogleich in eine Affäre stürzt, schon nach wenigen gemeinsamen Stunden mitteilt. Und die ihre Partner*innen – eine schöne Szene – en passant immer auch gleich zu Spritzen-Verabreicher*innen ausbildet, weil sie sich das Testosteron für ihre Transition nicht selbst spritzen mag.

Breitkreiz spielt diese*n Katho mit einer Energie, von der man sich tatsächlich im bestmöglichen Sinne überfahren fühlt. Er/sie – nach eigenem Bekunden benannt nach dem Katjuscha, einem „während des Großen Vaterländischen Krieges entwickelten Mehrfachraketenwerfer“ – donnert Sätze über die Rampe wie: „Ich bin eine Maschine.“ Oder: „Ich habe es satt, in meinem Körper eingesperrt zu sein.“

Auch Anastasia Gubareva als pointensichere Zwillingsmutter sowie Falilou Seck als ihr alkoholkranker Ehemann reißen Nüblings 140-minütige Inszenierung immer wieder heraus, wenn sie sich mal wieder im Plätschermodus zu verlieren droht. Nicht zu vergessen die Musikerin Polly Lapkovskaja, die den Abend auf den Punkt bringt: „So trapped, so confused.“

Nächste Vorstellung am 21. Oktober

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