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Ibrahim Mahama richtet in der St.-Eusebius-Kirche ein Parlament der Geister ein. Im Hintergrund ist die Installation "Electric Dub Station" von Antonio Jose Guzman und Iva Jankovic zu sehen.

© Django van Ardenne

Aufarbeitung, Versöhnung, Heilung?: Sonsbeek stellt sich dem Erbe des Kolonialismus – mit Hilfe aus Berlin

Die große Stadtkunstausstellung in den Niederlanden leitet dieses Jahr der kommende HKW-Intendant Bonaventure Ndikung. Und er gibt sich kämpferisch.

„Keti Koti“ bedeutet übersetzt auf Sranantongo, einer Kreolsprache, Ketten zerbrechen. In den Niederlanden heißt so auch der Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei vor knapp 160 Jahren. Begangen wird er gleichzeitig auf den Niederländischen Antillen und in Suriname, wo die Holländer mit zu den Letzten gehörten, die den Sklavenhandel abschafften. Sie galten als besonders grausam. 2009 wurde der Jahrestag zum ersten Mal mit Umzügen, Festen, Gedenkveranstaltungen zelebriert. Seitdem hat er immer mehr an Bedeutung gewonnen.

Kolonialismus, das ist auch im Nachbarland das große Thema: 250 Jahre Versklavung auf vier Kontinenten mit Millionen Opfern. Nachdem sich nun die Amsterdamer Bürgermeisterin offiziell bei den Nachfahren entschuldigt hat, will sich auch die Regierung zu einem offiziellen Statement durchringen, wie sie angekündigt hat.

Die goldene Kutsche des königlichen Hauses, die immer am Prinsjesdag Anfang September eingespannt wird, wenn der Monarch zum Parlament fährt, um seine Rede zu halten, kommt bereits nicht mehr zum Einsatz: Sklavendarstellungen zieren sie. Das geht nicht mehr.

So kommt es nicht von ungefähr, dass auch die Eröffnung der Sonsbeek-Skulpturenausstellung im niederländischen Arnheim genau am „Keti Koti“-Tag stattfindet. Die elfte Ausgabe des renommierten Kunstfestivals steht ganz im Zeichen von Aufarbeitung und Versöhnung.

Das passt, denn die Freiluftausstellung im weiträumigen englischen Park gleich hinter dem Arnheimer Bahnhof wurde 1949 gegründet, um der schwer vom Krieg gezeichneten Stadt kulturell wieder Auftrieb zu verschaffen. Kunst als Mittel der Heilung war ihr von Anfang an eingeschrieben. Noch bevor die Documenta in Kassel gegründet wurde, begann hier Aufbauarbeit mit den Mitteln der Kultur im großen Maßstab.

Der künstlerische Leiter kommt aus Berlin

Sonsbeek war die erste Freiluftausstellung ihrer Art, viele sollten folgen, bis hin zu den Münsteraner Skulpturenprojekten. Heute steht die Schau im Schatten sowohl von Kassel als auch Münster, ihr Budget fällt mit 2,5 Millionen Euro geradezu bescheiden aus.

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Doch hat Sonsbeek in diesem Jahr einen Star als künstlerischen Direktor: Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, den Kulturstaatsministerin Monika Grütters gerade zum neuen Intendanten des Berliner Hauses der Kulturen erwählt hat, einem der prestigeträchtigsten Jobs im Berliner Kulturleben. Ihm traut man zu, den Gegenpol zum Humboldt-Forum zu bilden. Schon früh hat er sich für Restitutionen und Reparationen eingesetzt.

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung ist künstlerischer Leiter der Sonsbeek-Ausstellung.
Bonaventure Soh Bejeng Ndikung ist künstlerischer Leiter der Sonsbeek-Ausstellung.

© Annette Riedl/dpa

Der 44-jährige Kameruner, der 2009 mit dem kleinen Ausstellungsraum „Savvy contemporary“ für junge Kunst aus Afrika in Neukölln begann, dann ins ehemalige Krematorium Silent Green nach Wedding weiterzog und von dort zum Curator at large der letzten Documenta berufen wurde, hat eine Bilderbuchkarriere in der Kunstwelt hinter sich. Ndikung ist wieder gebucht als Kurator der Dak’Art Biennale im Senegal, gestaltete den finnischen Pavillon auf der Biennale in Venedig, lehrt seit 2020 „Raumstrategien“ an der Kunsthochschule Weißensee und erhielt den Verdienstorden des Landes.

Nach Deutschland kam er ursprünglich, um Biotechnologie zu studieren. Mit seinem Gehalt als promovierter Ingenieur finanzierte er die Anfänge von „Savvy“, die Verbindung zwischen Kunst und Naturwissenschaft ist sein Credo. Gerade das dürfte ihn als Kandidaten für das Haus der Kulturen attraktiv gemacht haben.

Doch nicht nur. Wie Ndikung in Arnheim mit seinem tiefgrünen Anzug, rosa Hemd, der Ballonmütze, dem bunten Seidentuch beim „Keti Koti“-Umzug der neunköpfigen Band Ritmo Entertainment mit drei Bläsern und sechs Schlagzeugern durch den Sonsbeek-Park vorausgeht und über das ganze Gesicht strahlt, das zeigt sein mitreißendes Temperament.

„Ihr könnt uns die Schwarze Freude nicht wegnehmen“, ruft Bona, wie sie ihn hier alle nennen, kämpferisch. Aktivist bleibt Ndikung auch weiterhin – trotz aller Arriviertheit. In seinem Statement zur Berufung als HKW-Intendant hat er versprochen, alle Minderheiten der Stadt mitnehmen zu wollen. Ein großes Wort. Auf seinem Posten an der Spree wird er die ganze Klaviatur spielen müssen – bis zum Thinktank.

In Arnheim führt Ndikung vor, wie das funktionieren könnte. So hat er vier exzellente Kurator:innen um sich geschart. Einer nach dem anderen treten sie bei der Eröffnungspressekonferenz in der St.-Eusebius-Kirche vor und erzählen von ihrem migrantischen Hintergrund: der aus Indonesien stammenden Familie und ihren Traditionen, den hart arbeitenden Eltern, die aus Polen nach Arnheim kamen.

Dazwischen rappt ein Soulchor „We’re going on strike, Till they get this shit right“. Als Letzter in der Reihe erklärt Ndikung mit donnernder Stimme, dass es hier nicht um Ihr und Wir gehe, sondern die gemeinsame Geschichte, die alle verbinde. Auch durch die Sklaverei.

Sonsbeek lebt von der Entrüstung

Die „Keti Koti“-Parade führt am Eröffnungstag zu einem der letzten großen Herrenhäuser, wie einst viele in und um den Sonsbeek-Park standen, erbaut seit dem 18. Jahrhundert von betuchten Arnheimern. Im Zypendaal Huis wohnte die Familie Brantsen, die als Plantagenbesitzer zu Wohlstand gekommen war, wie erst vor Kurzem bekannt wurde. Der Zufall spielte den hartnäckig nachforschenden Kurator:innen, die wissen wollten, wer denn außerdem im Haus gelebt hat, wer die Angestellten waren, die Arztrechnung einer aus Übersee mitgebrachten Bediensteten in die Hände.

[Die Reise wurde unterstützt durch die sonsbeek-Stiftung und die Botschaft der Niederlande in Berlin]

Die anonyme Figur firmiert für Sonsbeek nun als „Anna“ und verkörpert das Schicksal all jener, denen die Freiheit geraubt wurde. Ihre Arztrechnung wird präsentiert in einer Ausstellung der „Black Archives“ in der Witte-Villa im Park. Die in Berlin lebende iranische Künstlerin Farkhondeh Sharoudi hat „Anna“ eine Installation mit blutroten Fahnen gewidmet, die sie in Teheran besticken ließ. Das Zypendaal Huis stand für eine Bespielung nicht mehr zur Verfügung, als klar wurde, welchen Tenor sie haben würde.

Hommage an ein Hausangestellte. Farkhondeh Sharoudi erinnert an „Anna“, die aus ihrer Heimat verschleppt wurde.
Hommage an ein Hausangestellte. Farkhondeh Sharoudi erinnert an „Anna“, die aus ihrer Heimat verschleppt wurde.

© Victor Wennekes

Sonsbeek lebt von der Entrüstung, das wird in vielen der 250 Beiträge und künstlerischen Positionen sichtbar, doch poetisch sublimiert. Die Werker Collective hat mit Bildern bedruckte Tücher an Gestängen auf die Wiesen und in das Waldstück des Parks gehängt, um an jene Sklaven zu erinnern, die sich in die Wälder flüchten konnten, Maroons genannt.

Wendelien van Oldenburgh, die in Berlin lebt, hat einer dreiköpfigen Frauenband einen Film gewidmet, die im Krongcong-Stil spielt, einer melancholischen indonesischen Musikrichtung. Willem de Rooij, ein weiterer Holländer in Berlin, präsentiert sein Archiv des französischen Fotografen Pierre Verger, der 1948 in Surinam acht Tage lang das alltägliche Leben dokumentierte. Die Projektionsfläche ist verspiegelt, sodass sich der Betrachter mit jedem neuen Bild der Diashow mitten im Geschehen wiederfindet. Wir und Ihr verschmelzen für einen Moment.

Die Ausstellung bleibt nicht allein im Park, sie zieht es ins unweit von Arnheim gelegene Kröller-Müller-Museum, sie bespielt einen Hangar, den die Deutschen während der Besatzung getarnt als Farmhaus errichteten, sie geht in Schulklassen, einen Barbershop, die Eusebius-Kirche, einen Buchladen. Sonsbeek ist überall.

„Ihr werdet uns nicht so schnell los“, ruft Ndikung seinen Zuhörern noch zu. Diesmal soll sich das Kunstfestival drei weitere Jahre hinziehen, um sich nachhaltiger mit der Stadt zu verbinden, wie es zunehmend bei vielen Biennalen Praxis geworden ist. Der Wanderzirkus Kunst hat verstanden, dass es wichtig ist, länger zu verbleiben, vor Ort Verantwortung zu übernehmen. Wie substanziell das ist, wird sich erweisen. Seinen neuen Berliner Job tritt Ndikung 2023 an.

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