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Der deutsche Reichskommissar Terboven und der mit ihm kollaborierende norwegische Ministerpräsident Quisling 1942 in Oslo.

© Riksarkivet (National Archives of Norway)

Norwegen unter NS-Besatzung: „Über die Grenze“ schildert die Flucht jüdischer Kinder

Abenteuer in Schnee und Eis: In ihrem Roman „Über die Grenze“ erzählt Bestsellerautorin Maja Lunde vom Überlebenskampf zweier jüdischer Kinder 1942 in Norwegen.

Es ist nur ein Blick, aber er verrät alles. „Habt ihr in letzter Zeit hier in diesem Haus irgendwelche merkwürdigen Geräusche gehört?“, fragt der Polizeichef, der mit seinen Männern die Villa der Arztfamilie Wilhelmsen auf den Kopf gestellt hat, auf der Suche nach Juden, die dort versteckt sein sollen. „Nein“, antwortet die zehnjährige Tochter Gerda und schüttelt energisch den Kopf.

Doch dann schaut sie zur Kellertür, dorthin, wo sie kurz zuvor gedämpfte Stimmen wahrgenommen hatte. Und der Polizeichef befiehlt seinen Leuten: „Dreht noch eine Runde im Keller.“

Maja Lundes Roman „Über die Grenze“ spielt Ende 1942, als im von den Deutschen besetzten Norwegen die Deportation der Juden ins Vernichtungslager Auschwitz begann. Die Szene erinnert an Louis Malles Filmdrama „Auf Wiedersehen, Kinder“, in dem ein französischer Klosterschüler während einer Unterrichtskontrolle durch Wehrmachtssoldaten seinen jüdischen Freund mit einem Blick verrät.

 Maja Lunde
Maja Lunde

© Jens Kalaene/p-a/dpa

Allerdings nimmt die Geschichte in „Über die Grenze“ einen anderen, besseren Ausgang. Zwar finden die Polizisten im Keller hinter einem Schrank einen Verschlag, in dem zwei Matratzen, ein Rucksack und eine Puppe liegen, die weder Gerda noch ihrem Bruder Otto gehören. Aber die beiden Kinder, die sich dort aufgehalten haben müssen, sind verschwunden.

Stattdessen werden Gerdas Eltern in Handschellen abgeführt und wohl, wie der Polizeichef mitteilt, in das südlich von Oslo gelegene Konzentrationslager Grini gebracht.

Die Kinder flüchten

Als die Polizeiautos weggefahren sind, beginnt sich in Gerdas Bauch etwas zu regen, das „wie wilde Tiere“ an ihr reißt und zerrt. Es ist – eine schöne Metapher – ihre Wut auf eine Welt, in der die Polizei unschuldige Menschen nicht mehr beschützt, sondern einsperrt. Das Mädchen fühlt sich schuldig, deshalb will sie etwas unternehmen.

Kurz danach sind wieder Stimmen zu hören. Die beiden jüdischen Kinder Daniel (10) und Sarah (7) hatten sich während der Razzia in den Schacht des Speiseaufzugs gerettet. Und als dann wieder die Polizeiwagen vorfahren, flieht Gerda mit Sarah und Daniel über die Feuerleiter, während der zwei Jahre ältere Otto noch zögernd zurückbleibt.

Für Politik interessiert Gerda sich nicht sonderlich, sie hat nur gehört, dass Hitler, „der Chef der Nazis“, die Juden gefangen nehmen ließ, weil er nicht will, dass sie weiter mit den anderen Leuten zusammenleben. „Was danach mit ihnen geschah – ich hatte keine Ahnung.“

Um diesem „Danach“ – heute wissen wir: dem industriell organisierten Völkermord – zu entgehen, müssen die Halbwaisen Sarah und Daniel ins neutrale Schweden entkommen, wo ihr Vater bereits auf sie wartet. Gerda möchte ihnen helfen, um „in Ordnung zu bringen, was ich angerichtet habe“.

Eine thrillerhafte, filmartige Dramaturgie

Sie träumt von einem Abenteuer wie in Alexandre Dumas’ Roman „Die drei Musketiere“, den sie gerade – auch dies eine Parallele zu Malles Film – begeistert gelesen hat. Es wird aber eine Angelegenheit auf Leben und Tod. In der Rolle des Bösewichts Graf Schwarzblut, mit dem Gerda sich bereits Schwertkämpfe ausgemalt hat, fungiert dabei Dypvik, der örtliche Chef der „Nasjonal Samling“, die mit den Deutschen kollaboriert. Zusammen mit einigen Dutzend Besatzungssoldaten setzt er den Kindern nach.

Bevor Maja Lunde mit ihrer „Geschichte der Bienen“ ein internationaler Bestseller gelang, hatte sie als Drehbuchautorin gearbeitet. Einer thrillerhaften, filmartigen Dramaturgie folgt auch ihr Debütroman „Über die Grenze“, der im norwegischen Original 2012 herauskam. Die Spannung beginnt schon am Bahnhof, wo Otto den Bahnhofsvorsteher ablenkt, damit sich Daniel und Sarah in den Zug schleichen können, und auch danach kommen die Kinder kaum einmal zum Atemholen. Von den rund 2200 Juden, die in Norwegen lebten, als 1940 die Wehrmacht einmarschierte, konnten etwa 1000 nach Schweden fliehen. 771 wurden deportiert und nur 26 überlebten.

Eine Lektion in Mut

Auf ihrem Weg begegnen den Kindern vielen Formen menschlicher Verhaltensweisen, von der Unterstützung bis zum Denunziantentum. Gerdas Cousin Per, der mit dem Widerstand sympathisiert, versteckt sie auf seiner LKW-Ladefläche zwischen Kartoffelsäcken. Später schaut sogar ein deutscher Soldat weg.

Doch die Bäuerin, die die Flüchtlinge mit Spiegeleiern und Schokolade bewirtet, holt die Polizei. An der Wand ihres Wohnzimmers ist ein Platz frei. Dort hing ein Hitler-Porträt.

Irgendwann stehen die Kinder mutterseelenallein im Wald, während die Nacht anbricht und der erste Schnee fällt. „Mutig sein bedeutet, Dinge zu tun, vor denen man große Angst hat.“ Das ist die Lektion, die einem dieses kleine große Buch erteilt.

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