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Szene aus dem Stück "Beste Beerdigung" am Atze Musiktheater.

© joerg metzner

Atze Musiktheater steht vor dem Aus: Künstler aus dem Off

Off-Theater leiden unter permanenter Selbstausbeutung. Nun kämpft das Atze Musiktheater in Berlin Wedding ums Überleben. Der Rechtsfall betrifft die gesamte Freie Szene.

Wenn es darum geht, schwierige Dinge mit einfachen Worten zu erklären, ist Thomas Sutter Profi. Seine Künstlerkarriere hat der Berliner gestartet, weil er mit dem üblichen putzigen Liedrepertoire für Kinder unzufrieden war. In seinem Atze Musiktheater an der Amrumer Straße in Wedding werden anspruchsvolle Gegenwartsthemen für Vor- und Grundschüler nachvollziehbar auf die Bühne gebracht. Darum kann er auch erklären, was die Bayerische Versorgungskammer mit der aktuellen Notlage seiner Bühne zu tun hat – und warum sein Problem eigentlich ein nationales ist.

Seit 2002 spielt Atze im ehemaligen Max-Beckmann-Saal mit insgesamt 580 Plätzen. 120 000 Zuschauer werden pro Jahr erreicht, die Tourneen mitgerechnet finden in dieser Saison fast 400 Vorstellungen statt. Zudem hat Thomas Sutter eine ganz eigene Form des Musiktheaters erfunden. In seinen Stücken sind Sprechen und Gesang nicht getrennt, wie man das vom Musical kennt, sondern die Dialoge gehen immer wieder in Melodien über, nahtlos, ohne Vorspiel. „Spaghettihochzeit“, ein Stück über Scheidungskinder, wurde vom Jugendkulturservice mit dem Ikarus-Preis ausgezeichnet.

Die Freiheit der Künstler

50 Prozent des Etats werden durch die Ticketeinnahmen erwirtschaftet. Während das Theater an der Parkaue Subventionen von jährlich 5,5 Millionen Euro erhält und das Grips 2,8 Millionen, kostet Atze den Berliner Senat bloß 680 000 Euro. Das klappt natürlich nur, weil die Musiktheater-Bühne nicht mit fest angestellten Schauspielern arbeitet, sondern mit Freiberuflern.

Das ist das Stichwort für Falk Berghofer. Er ist einer der Freelancer, die regelmäßig hier auftreten. Und er ist gern ungebunden. Wer Mitglied eines Stadttheater-Ensembles wird, erklärt er, ist automatisch weisungsgebunden. Das heißt, der Intendant bestimmt, wann wer welche Rolle spielt. In der Off-Szene dagegen stimmen sich die Künstler nicht nur mit ihren temporären Arbeitgebern über die Termine ab, sondern haben auch die Freiheit, bei einer Inszenierung nicht mitzumachen, deren Konzept ihnen missfällt.

Für Menschen wie Falk Berghofer gibt es die Künstlersozialkasse (KSK), die Renten- und Krankenversicherungsschutz gewährt, wobei der sonst übliche Arbeitgeberanteil durch den Bund sowie eine von den Verwertern künstlerischer Produkte geleistete Sozialabgabe finanziert wird. Hier kommt nun die Bayerische Versorgungskammer ins Spiel. Sie verkörpert in Thomas Sutters Erzählung den Bösewicht: Die Institution fühlt sich für alle Beschäftigten an deutschen Theatern zuständig und sucht deshalb die Landkarte der Bundesrepublik nach Bühnen ab, die nicht bei ihr Mitglied sind.

Der Hilferuf bleibt ungehört

So erhielt auch Sutter zunächst die Aufforderung, seine Akten offenzulegen und anschließend die Aufforderung, ab sofort alle Beschäftigten sozialversicherungspflichtig anzumelden. Die meisten Theater, denen die Bayerische Versorgungskammer auf die Pelle rückt, würden sich fügen, sagt Thomas Sutter. Er war dazu nicht bereit. Weil ihm dadurch Mehrausgaben von 240 000 Euro pro Jahr entstünden, die ein Drittel des staatlichen Zuschusses auffressen. Also zog der Atze-Leiter vor Gericht – und verlor.

Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird sein Haus im Oktober pleite sein und muss spätestens zum Jahresende schließen. Vom Berliner Senat wurde sein Hilferuf bereits „herzlos abgeschmettert“. Man habe ihm geraten, die Neuproduktionen zu streichen und bei den Gehältern zu sparen, um das Geld für die Sozialversicherung aufzubringen. Dann allerdings würden seine Schauspieler nicht mehr 120 Euro pro Vorstellung erhalten, sondern nur noch 36,57 Euro. „Ich kann es nicht beweisen, aber ein Erwachsenentheater, das diese Erfolgsgeschichte aufweisen kann, würde nicht so behandelt“, sagt Sutter mit Bitternis. „Für mich ist das ein Teil der täglichen Diskriminierung von Menschen, die mit Kindern arbeiten.“

Gern würde Sutter den Streit mit der Bayerischen Versorgungskammer bis auf die höchste juristische Ebene durchfechten. Weil er weiß, dass nicht jeder Schauspieler fest angestellt sein will. Doch ihm fehlen die finanziellen Mittel. Eigentlich müsste sich der Deutsche Bühnenverein der Sache annehmen. Denn letztlich sind bundesweit alle betroffen, die nicht nach dem Stadttheater-Prinzip arbeiten. 13 000 Bühnenkünstler sollen bei der KSK Mitglied sein.

Neues Berufsbild, alte Gesetze

Der Bühnenverein aber schweigt, mag wohl ebenso wenig das heiße Eisen anfassen wie die Berliner Politik. Obwohl die Lebendigkeit der hauptstädtischen Kulturszene doch gerade darin besteht, dass so viele Künstler im Off arbeiten, abseits der Institutionen. Und obwohl jeder, der in der Kulturverwaltung mit der Förderung freier Gruppen zu tun hat, genau weiß, dass hier versicherungstechnisch ein Umgehungsstraftatbestand vorliegt. Weil die Off-Theater trotz permanenter Selbstausbeutung gar nicht anders überleben können.

„Die Arbeitsverhältnisse haben sich geändert“, sagt Falk Berghofer, „unser heutiges differenziertes Berufsbild wird vom Gesetz nicht widergespiegelt.“ „Patchworkschauspieler“ nennt Thomas Sutter seine Freiberufler – und findet, es sei doch eine historische Errungenschaft, dass sich Darsteller aus ihrer Rolle als „Hure des Regisseurs“ befreit hätten.

Nun ist es an der Kulturstaatsministerin, sich des Problems anzunehmen. Als Mitfinanzier der KSK müsste sie ein Interesse daran haben, grundsätzlich die Frage zu klären, unter welchen Voraussetzungen Schauspieler als Freiberufler arbeiten können. Monika Grütters, übernehmen Sie!

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