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Durchdringende Melancholie. Zhao Tao in der Rolle der Qiao.

© Neue Visionen

"Asche ist reines Weiß" von Jia Zhangke: Die Treue der Gesetzlosen

"Asche ist reines Weiß": Jia Zhangkes neuer Film steigt hinab in Chinas Unterwelt und erzählt vom Sprung des Landes in die Hypermoderne.

Von Gregor Dotzauer

Die Provinz Shanxi im Norden Chinas. Erst vor Kurzem hat das neue Jahrtausend seine Augen aufgeschlagen. Durch die alte Kohlestadt Datong rumpelt ein Bus. An Bord einfaches Volk, ärmlich gekleidet. Rauchende Männer. Ein Baby, auf dem die Kamera verweilt. Und eine Frau, die in sich gekehrt zum Fenster hinaussieht. Wer mit den Filmen von Jia Zhangke vertraut ist, erkennt sie sofort als Zhao Tao, seine Lebensgefährtin. Mit Ausnahme seines Debüts „Xiao Wu“ (1998), dem Porträt eines kleinen Diebes aus seiner Heimatstadt Fenyang, ist sie immer dabei: von Film zu Film dieselbe in ihrer stillen Stärke und zugleich stets eine andere. Das gilt auch für den großen binnendramaturgischen Bogen seines Epos „Asche ist reines Weiß“: In der Figur der Qiao durchdringen sich Schauspielerin und Rolle auf eine Weise, wie es nur im Kino möglich ist.

Knapp zwanzig Jahre nach dieser Eingangsszene – Datong ist, wie der Bahnhof für die Hochgeschwindigkeitszüge zeigt, auf dem Sprung in die Hypermoderne – wird man ihr von Neuem begegnen. Von der bedingungslos Liebenden, die ihrem Gangsterfreund Bin (Liao Fan) nicht von der Seite weicht, hat sie sich in eine von der Liebe enttäuschte Frau verwandelt. Jahrelang hat sie an Bins Stelle im Gefängnis gesessen, um anschließend fallengelassen zu werden. Nun holt sie den nach einem Schlaganfall im Rollstuhl Sitzenden ab und bietet ihm in der Mahjong-Hölle, in der nun sie das Sagen hat, ein Obdach an.

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Einen historischen Wimpernschlag und eine filmische Zäsur entfernt, befindet sie sich noch auf dem Weg nach Xinjiang, ins Gebiet der Uiguren. Der Zug durchquert die Weiten in einem Tempo, in dem der Blick aus dem Fenster noch lohnt. Für den Augenblick einer Zufallsbekanntschaft sieht es so aus, als könnte sich Qiao noch einmal auf einen anderen Mann einlassen. Es ist nicht sein Eingeständnis, statt eines Tourismusunternehmens nur einen Krämerladen zu betreiben, das sie in die Flucht treibt. Die Schwerkraft des alten Clangefüges zerrt an ihr, und noch im erkalteten Zustand wird sie die Liebe zu Bin nicht los. Die Nähe zu dem Möglichkeitsmann geht nur so weit, dass sie ihm, von einer an ihren unterschiedlichen Enden gehaltenen Wasserflasche getrennt, die Hand reicht.

Ein UFO am Himmel

In derselben Nacht rast in der selbstgewählten Einsamkeit ein UFO über den Himmel. Die Vision markiert Qiaos Ankunft in einem fremden Zeitalter, das wirkt, als seien Außerirdische über das Land hergefallen. Es ist der einzige Einbruch des Fantastischen in diesem sonst konsequent neorealistischen Film.

In drei Kapiteln erzählt Jia Zhangke von Chinas schwindelerregendem Weg in die Zukunft. Das Land der aussterbenden Kohleminen, das auch Qiaos Vater um seine Arbeit bringt, erwacht fast über Nacht im Land des Drei-Schluchten-Staudamms, zu dessen Bau auf beiden Seiten des Yangtze Millionen von Menschen zwangsumgesiedelt wurden. Und wenig später findet es sich wieder in einer digitalen Hightech-Nation, in der die Kurznachrichten von WeChat den Takt vorgeben und Kameras bald über jede öffentliche Regung wachen. Jias Werk entwirft in seiner Gesamtheit eine Chronik der vergangenen zwei Jahrzehnte. Dass „Asche ist reines Weiß“ nun noch einmal alle Aspekte bis zum offenen Selbstzitat bündelt, während Zhao Tao ihre Frisuren vom Pagenkopf über den Pferdeschwanz bis zum offen getragenen Haar wechselt, ist allerdings weniger eine Wiederholung als der Versuch, der anhaltenden Auslöschung von Erfahrungen und ihren Räumen etwas entgegenzusetzen. Jia Zhangke bringt es dabei zu einer beispielhaften erzählerischen Kraft.

„Asche ist reines Weiß“ übertrifft „A Touch of Sin“ (2013), ein mit schwertkämpferischen Wuxia-Elementen spielendes Episodenquartett über die Gewaltpotenziale im neuen China an Geschlossenheit – und das ebenfalls dreiteilige, bis in die nahe Zukunft ausgreifende Melodram „Mountains May Depart“ (2015) an Tiefe. In seinen zweieinviertel Stunden entwickelt der Film überdies einen suggestiven Rhythmus. Er nimmt sich Zeit für das Unscheinbare und verkürzt mit Ellipsen gewaltige Sprünge.

Das spiegelt sich auch im verwendeten Material. Fundstücke aus Jias Archiv fügen sich nahtlos an die neuen Aufnahmen seines französischen Kameramanns Eric Gautier: Yu Lik-wai, der bisher alle Filme von Jia fotografiert hat, war verhindert. Während der Prolog, die skizzierte Busfahrt, in seinem digitalen 4:3-Format sichtbar aus der Vergangenheit stammt, vermischen sich die Entstehungszeiten später sehr viel raffinierter. Einmal sieht man Frauen hinter einem Zaun zu „YMCA“ von den Village People tanzen, während Kinder ihnen zuschauen. Im Sekundenbruchteil von Schnitt und Gegenschnitt (Matthieu Laclau) liegen fast Jahrzehnte. Oder Qiaos Kreuzfahrt auf dem Yangtze: Da fließt übriggebliebenes Material von „Still Life“ (2006), Jias filmischer Odyssee zwischen Abriss und bevorstehender Überflutung von Fengjie, einer Stadt, die dem Drei-Schluchten-Staudamm weichen muss, mit Material aus der Gegenwart zusammen.

Hommage an die Unterwelt

Der Originaltitel von „Asche ist reines Weiß“ lautet „Jiang hu er nü“. Das bedeutet so viel wie „Kinder des Jianghu“, wobei Jianghu eine organisierte Unterwelt meint, die nach Jahrzehnten der Latenz erst wieder im Zuge von Deng Xiaopings Reformerjahren aufkam. In ihrem Ehrenkodex spiegeln sich konfuzianische Tugenden, in ihrem Gehabe die Posen von Hongkongs Filmgangstern. Über eine vorsichtige Hommage an diese Genrewelt geht Jia Zhangke jedoch nicht hinaus. Er interessiert sich vor allem für die Zerrissenheit des Jianghu zwischen einer nach innen bindenden Treue und Rechtschaffenheit, die selbst in der Gesetzlosigkeit eine Brücke zur ehrbaren Gesellschaft bildet, und einer nach außen hin aus dem Ruder laufenden Moral.

Denn während die Jianghu-Verschwörer ihre krummen Geschäfte machen, die einigermaßen verlässlichen Regeln gehorchen, sind es marodierende Jugendgangs, die diese kriminelle Welt in Stücke schlagen. Der gewaltsame Tod eines Immobilienhai-Bruders – offenbar ihr Werk. Der Angriff auf Bin mit einer Eisenstange – zweifellos. Und die Massenschlägerei, in die er gerät, nachdem er die beiden Täter so zur Rede stellte, dass sie sich für ihre Demütigung nun rächen wollen – erst recht. Mit einem in die Luft abgegebenen Schuss aus seiner Pistole rettet Qiao Bin das Leben und wird dafür wegen illegalen Waffenbesitzes verurteilt.

Yi oder Rechtschaffenheit heißt der konfuzianische Zentralbegriff, in dem Bin und Qiao das moralische Prinzip ihrer Jianghu-Zugehörigkeit sehen. Aber dieses Yi reicht für ein Miteinander hinten und vorne nicht aus. Sie konkurriert mit dem Gesichtsverlust, den Bin fürchtet, wenn er, als Bandenführer entthront, Qiao im Gefängnis besuchen würde – weshalb er diese Geste der Menschlichkeit lieber gleich unterlässt. Und wenn Bin anfangs unter dem finsteren Statuenblick von General Guan Yu, einem Quasi-Heiligen aus der Zeit der Drei Reiche, einem Clanbruder abverlangt, seine Schulden ehrlich einzugestehen, wird dieser ihn, wiederum unter Guans Beistand, am Ende bei einer Wette um seinen Rollstuhl zu demütigen versuchen. Der scheinbar einfache Kodex ist pervertiert.

Fluch des Jianghu

Einmal Jianghu, immer Jianghu: Das ist der Fluch, der auf ihnen allen liegt. Es gibt zwar so etwas wie soziale Mobilität, vereinzelt auch wachsenden Reichtum, aber trotz gelegentlicher Überschreitung der gewohnten Grenzen keinen dauerhaften Ausweg. Insofern erzählt Jia Zhangke, ohne unmittelbar politische Themen anzusprechen, auch von den Fallstricken einer zum Programm erhobenen harmonischen Gesellschaft: Jeder möge gefälligst an dem Platz bleiben, der ihm einmal zugewiesen wurde. Anders als bei einem Großteil seines Werks ist er damit in der Volksrepublik anstandslos durchgekommen und hat seinen Film erfolgreich in die Kinos gebracht.

Seine unwiderstehliche Kraft entfaltet „Asche ist reines Weiß“ jedoch als Porträt einer Frau. Zhao Tao hat noch nie nuancierter gespielt als hier und arbeitet doch nur mit Winzigkeiten. Als Gangsterliebchen geht sie mit ihrem ganzen Frohsinn noch ganz aus sich heraus und knufft fröhlich Leute in die Seite. Dann wächst sie als junge Heldin über sich hinaus, fällt in der Haft, ohne die Haltung zu verlieren, kreidebleich in sich zusammen, gaunert sich nach der Entlassung mit den Tricks ihres Gewerbes ins Leben zurück und endet als Frau, die sich ihre Gebrochenheit nicht anmerken lässt, um ihre Gang im Griff zu behalten. Man versteht das alles vielleicht noch besser, wenn man die kulturellen Mentalitäten, um die es hier geht, aus eigener Anschauung kennt. Aber es wäre kein Weltkino, als dessen unvergleichlicher Meister sich Jia Zhangke seit Langem bewährt, wenn einen Zhao Tao nicht überall so durchdringend in die eigene Seele schauen würde.

Ab Donnerstag in acht Berliner Kinos; OmU: b-ware, fsk, Kulturbrauerei, Lichtblick, Wolf

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