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Freundschaft. El Ghalia Ben Zaouia (l.) und Julie Gayet in „Apatride“.

© La Prod/Apatride

Arabische Berlinale-Filme: Hinter dem Grenzzaun

Frauen im Patriarchat, Männer ohne Gedächtnis: Die Sektionen Forum und Panorama zeigen arabische Spielfilme und Dokumentationen.

Um Ghareeb, eine Frau mit Hijab und langem Gewand, treibt Geld ein. Dicke Bündel ägyptischer Pfundscheine hält sie in ihren Händen, wenn sie in Rod El Farag, einem staubigen, zwischen Bahngleisen eingeklemmten Stadtteil von Kairo, energisch die monatlichen Beiträge für die Sparkasse ihrer Nachbarschaft einsammelt, die wie eine große Familie zusammenlebt. Die Hausfrau, Mutter mehrerer Kinder und Ladenbesitzerin, unterhält zusammen mit einigen Familien und alleinerziehenden Müttern in dem engen Gassengewirr eine Art Privatbank für Mikrokredite. Notwendige Anschaffungen oder die fürs soziale Klima unabdingbaren Hochzeitspartys werden je nach Abstimmung aus dem Topf finanziert.

Sechs Jahre begleitete die libanesische Filmemacherin Reem Saleh die Nachbarschaftstreffen. In ihrem Dokumentarfilm „Al Gami’ya“ (Panorama) sprechen die Frauen und Mädchen offen, die Regisseurin hat ihr Vertrauen gewonnen. So gelingt dem Film ein bewegender Einblick in sonst verschlossene Bezirke des Privatlebens unter einem patriarchalen Regime. Man folgt der Kamera in die armseligen Behausungen, sieht, wie gekocht, geputzt, gestritten und diskutiert wird, wie die Frauen sich den Schlägen ihrer Männer zu entziehen versuchen und wie meisterlich sie nicht nur die Sparkasse sondern auch die Läden in Schuss halten, mit denen sie den fehlenden Unterhalt der abtrünnigen Partner kompensieren.

Auch der Forums-Beitrag „Apatride“, ein großartiger Spielfilm der marokkanischen Regisseurin Narjiss Nejjar, kreist um das Schicksal einer jungen Frau, die aus dem Bannkreis der Unterdrückung auszubrechen versucht – und tragisch scheitert. Politische Willkür und tief verwurzelter Sexismus greifen in der an historische Fakten angelehnten Geschichte ineinander. 1975 wies die algerische Regierung über Nacht zehntausende marokkanischer Bürger aus ihrem Land aus. Das Mädchen Henja musste seine algerische Mutter zurücklassen, der marokkanische Vater konnte jenseits der Grenze nie wieder Fuß fassen und starb früh.

Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung

Noch als Kind zwangsverheiratet, flüchtete sie aus der Ehe und ist seitdem ohne Papiere. Auch als Henja einen blinden Alten heiratet und sich mit leisen Widerstandsgesten dem Dienst in seinem Haus unterwirft, verweigert der Alte – die allegorische Figur des Patriarchen – die Zustimmung, die ihr Papiere für den Grenzübertritt nach Algerien ermöglichen würde, um die Mutter zu suchen. Über weite Strecken ohne Dialog konzentriert sich der Film auf eine intensive Bildsprache, auf den Blick der jungen Frau, ihre Wahrnehmung der Landschaft am Grenzzaun, die Nejjar in flirrende atmosphärische Impressionen überträgt.

Henjas Sehnsucht lässt sie immer neue Fahrradtouren ans unüberwindliche Meer unternehmen. Sie möchte nichts lieber, als die sandige Bucht zu überqueren, jene durch zwei einsame Fahnen grotesk markierte Grenze zwischen Marokko und Algerien. Henjas Schicksal, eine Parabel auf die Brutalität der postkolonialen Gesellschaft Marokkos, eskaliert, als der Sohn des blinden Alten aus Frankreich zurückkehrt und voll stummer Frustration über den Hass des Vaters über Henja herfällt. Als die Französische Ehefrau zu Besuch kommt und sich wortlos mit Henja anfreundet, erlebt dieses für kurze Zeit so etwas wie Bewegungsfreiheit und Selbstbestimmung. Doch die Solidarität endet, als Henjas Schwangerschaft offenbar wird. „Apatride“ ist eine Elegie auf eine junge Frau, deren Versuch, sich dem Gesetz der Väter zu entziehen und sich auf ihre Wurzeln jenseits der Grenze in der mütterlichen Kultur zu besinnen, tödlich endet.

Zu dünn und zu alt für den Bauchtanz

„Jahilya“ wiederum, eine enigmatische Parabel des Schriftstellers und Filmemachers Hicham Lasri (Forum), findet mit den Mitteln einer surrealen Dystopie Bilder für den brutalen Zwiespalt zwischen Männern und Frauen, Reichen und Armen, Städtern und Landleuten, Eltern und Kindern in der Gegenwartsgesellschaft Marokkos. Ein Countdown von zehn Kapiteln, achronologisch erzählte Kurzgeschichtenfragmente – so entfaltet Lasri ein allegorisches Panorama. Der Titel „Jahilya“ verweist auf eine arabische Schlüsselmetapher, die den „Zustand der Unwissenheit“, ein dunkles Reich abgründig heidnischer Unordnung vor der Periode des Islam bezeichnet.

In seinem bitterbösen Szenario schickt der Regisseur lose miteinander verbundene, zeichenhafte Charaktere aufeinander los. Da sucht ein Baggerfahrer einen Helfer für seinen Selbstmord, ein Vergewaltigungsopfer wird an einem langen Seil im Garten einer ländlichen Villa festgehalten, ein Mann ohne Gedächtnis sucht seine Vergangenheit und entdeckt, dass seine Frau ihn niedergeschlagen hat. Eine Tänzerin will sich im Bauchtanz verwirklichen, muss aber hören, sie sei zu dünn und zu alt. Ein reicher Nichtsnutz drangsaliert eine Prostituierte und demütigt seinen Fahrer. Jeder quält jeden, keine Ausflucht nirgends, weinende Männer allerorten. Aber die Larmoyanz dieser Endzeitvision lässt einen kalt zurück.

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