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Auch zur „Berlin trägt Kippa“-Demonstration gab es antisemitische Kommentare im Netz.

©  dpa/Britta Pedersen

Antisemitismus im Internet: Hirngespinste des Hasses

Nicht nur an den Rändern der Gesellschaft, sondern auch in ihrer Mitte existiert Antisemitismus. Eine Studie der TU Berlin untersucht, wie er sich im Internet unverstellt äußert – und zunimmt.

Es ist kein Geheimnis mehr, dass der Antisemitismus heute wieder bedenkliche Ausmaße annimmt. Wer geglaubt hat, die Verteufelung der Juden sei nach Auschwitz nicht mehr möglich, sieht sich enttäuscht, doch ein Blick auf relevante Forschungsergebnisse hätte ihn schon lange eines Besseren belehrt.

In der Wissenschaft nennt man dieses Phänomen den Post-Holocaust-Antisemitismus (PHA). Die Juden, so „argumentieren“ seine zahlreichen Vertreter, „beuten“ den Holocaust aus, schwingen die „Auschwitzkeule“ und unterbinden damit auch alle Kritik an der israelischen Politik. Denn folgerichtig hat der PHA einen auf Israel projizierten Antisemitismus geschaffen. Dieser Staat ist erst nach dem Holocaust entstanden, und seit Auschwitz wird er zum neuen, politisch verbrämten Hassobjekt.

Diese und viele andere empirisch erhärtete Erkenntnisse bietet eine Studie von Monika Schwarz-Friesel. Die Kognitionswissenschaftlerin an der TU Berlin kommt von der Linguistik her, die Varianten des Antisemitismus liest sie aus seinen sprachlichen Ausdrucksformen ab. Jetzt legt sie „Judenhass im Internet“ vor, die Ergebnisse eines von der DFG geförderten langjährigen Forschungsprojektes. Der Titel nennt das Kind beim Namen. „Antisemitismus“ ist ein deutsches Kunstwort, das erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde, aber dahinter – sehr viel älter und primitiver – versteckt sich der seit Jahrtausenden im Abendland tradierte Judenhass. Was ihnen angelastet wird, belegen Zitate aus den Internetforen, die den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind, und eines von vielen, wörtlich und orthographisch original wiedergegeben, mag hier als Beispiel genügen: „sie wollen alle Völker, Kulturen, Religionen der Erde abschaffen um dann ihren Zionistischen Weltstaat zu errichten. Dazu haben sie bereits schon 2 Weltkriege angezettelt + Palästina + 9/11 und den Krieg gegen den Islam planen sie ja bereits…“

Nach Auschwitz gibt es bei Antisemiten eine gewissen Selbstzensur - aber nicht im Netz

Das Internet hat unsere Welt radikal verändert. Seit der Jahrtausendwende entnehmen wir ihm nicht nur unsere Informationen, sondern liefern ihm über soziale Netzwerke auch seine Inhalte. Schwarz-Friesel tut gut daran, es zu untersuchen. Nach Auschwitz gibt es bei Antisemiten, sofern sie aus der Mitte kommen und weder rechts- noch linksextrem sind, eine gewisse Selbstzensur, deshalb sind konventionelle Meinungsumfragen kaum verlässlich. Im Internet dagegen äußern sich die Teilnehmer ungehemmt und bieten einen unverstellten Spiegel der Gesellschaft.

Was dabei zutage tritt, ist erschreckend. Ihre Hasser sehen die Juden als universalen Sündenbock, und Schwarz- Friesel beschreibt diese Haltung als einen Glauben, der wie jede andere Religion rational nicht zu beeinflussen ist. Das überzeugt durchaus, wenn man bedenkt, dass das Christentum aus dem Judentum hervorgegangen ist, sich als das „wahre Israel“ versteht und die Juden daher von seinem Heil ausschloss, indem es sie zu den Mördern Gottes stempelte.

Diese Schuldzuweisung bildet seit zweitausend Jahren die Grundstruktur des Judenhasses, und Schwarz-Friesel bezeichnet ihn als ein „Kulturerbe“ des Abendlandes. So ist es kaum verwunderlich, dass dieser Hass nicht nur die extremen Randzonen des Web 2.0 infiltriert hat, sondern auch seinen Mainstream – gibt man etwa auf der populären Webseite Gutefrage.net entsprechende Suchbegriffe ein, so kommen die wüstesten Ergebnisse hoch.

[ Monika Schwarz-Friesel: Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, Hentrich & Hentrich, Leipzig 2019, 168 S., 17,90 €.]

Erschreckend ist an dieser Studie, dass Schwarz-Friesel und ihr Mitarbeiter- Team ohne Vorurteil an ihr Projekt herantreten, also keine Fragen stellen, die die Antwort schon vorausnehmen, sondern nur große Textsammlungen auswählen, die sich auf konkrete Problemfelder beziehen, etwa die Beschneidungsdebatte, den Gaza-Krieg von 2014 oder die „Berlin trägt Kippa“-Demonstration 2018. Zum Textkorpus gehören Diskussionen in Online-Ausgaben der großen Zeitungen – darunter auch von den Redaktionen gelöschte Beiträge, die zur Verfügung gestellt wurden – oder Mails an die israelische Botschaft und den Zentralrat der Juden. Dieses umfangreiche Material unterzieht Schwarz-Friesel „blinden“, elektronischen Zugriffen auf die Suchbegriffe, wertet sie statistisch aus und kommt zu Ergebnissen, die keinen Zweifel lassen: In ständig wachsenden Kreisen herrscht die Sprache des Hasses.

Was also, fragt sie, ist zu tun? Zunächst widerlegt sie eine Reihe von Missverständnissen, von denen hier nur einige genannt werden können: Der Antisemitismus ist kein historisches, sondern ein aktuelles Problem; er kommt nicht von rechts, sondern aus der Mitte, und er kann nicht mit Fremdenfeindlichkeit gleichgesetzt werden, weil Juden keine Fremden sind, sondern Deutsche. Deutschland, schreibt sie im letzten Kapitel, muss eine historische Wahrheit begreifen, die man lange verdrängt hat. Aber eingefleischte Kognitionen verändern sich nur schwer. Der von der Studie ernüchterte Leser begnügt sich mit dem Wunsch, pädagogisch gezielt auf die Jugend einzuwirken. Die alten Judenhasser werden wir nicht ändern, aber ihren Nachwuchs sollte man beschränken.

Jakob Hessing

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