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Was schreibt sie? Anne Franks Wachsfigur in der Berliner Ausstellung von Madame Tussauds, mit ihrem berühmten Tagebuch, aus dem immer wieder unbekannte Passagen auftauchen. Foto: p-a / dpa

© picture alliance / dpa

Anne Frank: Ein Mädchen für viele

Der Historiker David Barnouw beschreibt, wie jede Zeit sich ihre eigene Anne Frank erfindet.

Seit zwei Monaten drängeln sich nun auch in Berlin Schüler um ihre Altersgenossin Anne Frank – auch wenn sie bei Madame Tussauds Unter den Linden nur als Wachsfigur zu sehen ist. Anne Frank, 1929 in Frankfurt am Main geboren und 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet, ist durch ihr in 60 Sprachen übersetztes und rund 20 Millionen Mal verkauftes Tagebuch zum wohl berühmtesten Opfer des Holocaust geworden. Es gibt Anne-Frank-Schulen in der ganzen Welt, und Google liefert bei der Suche nach ihrem Namen fast 54 Millionen Treffer.

Eine Million Besucher pro Jahr zieht „het Achterhuis“ (das Hinterhaus) in Amsterdam an, wo die Familie Frank sich zwischen Juli 1942 und dem Verrat im August 1944 versteckte, nachdem sie 1933 vor den Nationalsozialisten in die Niederlande geflüchtet war. Wo die Grenze zwischen Holocaust-Gedenken und Touristenzirkus verläuft, lässt sich dabei nicht immer entscheiden.

Die Frage treibt auch den Historiker David Barnouw um, seit Annes Vater Otto Frank die Tagebücher seiner Tochter 1980 dem Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation (NIOD) hinterließ. Jahrelang schlug Barnouw, Direktor des NIOD, im Anne Frank Huis alle Vierteljahre die Seiten des Tagebuchs um, um Lichtschäden zu vermeiden.

Kürzlich hat Barnouw in den Niederlanden „Het fenomeen Anne Frank“ veröffentlicht, ein kleines Buch über die von ihm so genannte Anne-Frank-Industrie. Barnouw, verantwortlich für die 1994 erschienene wissenschaftliche Ausgabe des Tagebuchs, legt Wert darauf, dass es sich dabei nicht um ein geschlossenes Manuskript handelt. Anne Frank hatte schon selbst begonnen, ihr Tagebuch umzuschreiben und zu redigieren, weil sie so gerne Schriftstellerin oder Journalistin werden wollte. In ihrem Versteck hatte sie im Radio gehört, dass Kriegstagebücher nach dem Krieg sicher gerne gelesen würden.

Als Otto Frank nach dem Krieg die Tagebücher (beziehungsweise ein vom ihm aus Annes erster und zweiter Version zusammengestelltes Manuskript) zu publizieren versuchte, gelang es ihm zuerst nicht, einen Verleger zu finden. Es brauchte zunächst einen von einem namhaften Historiker geschriebenen Artikel auf der Titelseite einer Zeitung. „Het Achterhuis“ erschien in den Niederlanden zuerst 1947, in anderen europäischen Ländern im Laufe der fünfziger Jahre. Mit der deutschen Übersetzung beauftragte Otto Frank die Berliner Journalistin Anneliese Schütz, die aber nicht nur die Prosa der 14-Jährigen etwa steif übersetzte, sondern auch antideutsche Passagen abschwächte. Sie befürchtete, man werde den Text in Deutschland sonst nicht lesen. Aus Annes Formulierung „Heldenmut im Krieg und gegen die Deutschen“ wurde zum Beispiel „Heldenmut im Krieg und im Streit gegen Unterdrückung“. Otto Frank stimmte diesen Änderungen anfänglich zu, beklagte sich aber später darüber. In deutscher Bearbeitung erschien „Das Tagebuch der Anne Fran“ 1950. Die Pädagogin Marie Baum verfasste ein Vorwort, in dem es hieß: „Noch einmal senkt sich die unsühnbare Schuld der Judenverfolgung als fürchterliche Last auf uns.“

Schon die Geschichte der Bearbeitungen zeigt, wie Anne Franks Leben und Schicksal zu jeder Zeit anders beobachtet, interpretiert und politisch benutzt wurden. Gut 20 Jahre lang war das dominierende Bild von Anne Frank das eines Mädchens, das sich dem Guten im Menschen verschrieben hatte und einer ziemlich anonymen Bedrohung gegenüberstand – nicht aber das einer jungen Jüdin. Diesem Bild entsprangen auch das amerikanische Theaterstück von 1955 und die Hollywoodverfilmung 1958, obwohl einzelne Kritiker sich schon damals über die Trivialisierung des Holocaust beklagten.

1957 kam es auch zu einer Tagebuchausgabe in der DDR, ein Jahr darauf entstand die 13-minütige Dokumentation „Ein Tagebuch für Anne Frank“, die sich aber weniger mit der Titelfigur beschäftigte als mit „westdeutschen“ Kriegskriminellen und „Großbetrieben“, die am Krieg verdienten. In den siebziger Jahren versuchten in den Niederlanden vor allem die Linke, Anne Frank für sich zu beanspruchen. Doch als das Schwarz-Weiß-Bild Grautöne bekam und der eigene Verrat und die Kollaboration ins Rampenlicht rückten, versuchten Historiker umsonst, herauszufinden, wer die Familie verraten hatte. In den neunziger Jahren folgten noch Erinnerungen von Freundinnen und Bekannten.

Haargenau beschreibt Barnouw, wann, wo und von wem die Echtheit des Tagebuchs infrage gestellt wurde. Schon zwei Jahre nach der Bühnenpremiere gab es Rechtsradikale, die von einer Fälschung sprachen. Später, in den frühen Achtzigern, kam es mehrmals zu Verurteilungen von Revisionisten. Auch deshalb drängte man auf eine wissenschaftliche Edition, die alle Versionen und Bearbeitungen enthielt, damit jeder sich selber einen Eindruck davon verschaffen konnte, wie „Het Achterhuis“ entstand.

Noch 1998 tauchten einige bisher unbekannte Tagebuchseiten auf, die Otto Frank dem damaligen Direktor des Anne-Frank-Fonds Basel übergeben hatte. Und als ein niederländisches Fernsehprogramm 2004 den größten Niederländer wählen lassen wollte, kam plötzlich heraus, dass Anne Frank niemals Niederländerin gewesen war. Aufgrund der Nürnberger Rassengesetze war sie ab 1935 eine Staatenlose.

Obwohl Barnouw einige Kuriositäten nennt – in Japan gibt es zum Beispiel Anne-Frank-Tampons –, ist klar, dass es eine „Anne-Frank-Industrie“ in großem Stil eigentlich gar nicht gibt. Sein Buch zeigt aber sehr wohl, was Erwachsene im Lauf der Jahre alles in ein von den Nazis ermordetes Mädchen hineinzuprojizieren vermochten – oft mit guten, manchmal aber auch mit bösen Absichten.

Nun erwartet Barnouw immer mehr Versionen des Tagebuchs, zumal 70 Jahre nach Anne Franks Tod, also in drei Jahren, ihre Texte gemäß dem Urheberrecht gemeinfrei sein werden. Ein Musical und eine Graphic Novel gibt es ja schon. Für die drei Stiftungen, die das Erbe verwalten, wird es nur immer schwieriger werden, darauf einzuwirken, wie andere damit verfahren. Glücklicherweise wird es aber auch dann noch viele junge Menschen geben, die ihr Bild von Anne Frank aus der Lektüre des sorgfältig edierten Tagebuchs gewinnen.

David Barnouw: Het Fenomeen Anne Frank. Verlag Prometheus, Amsterdam 2012. 180 Seiten, 18,95 €

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